Headlines

Alternativen

Alternativen
(Alain Rischard/editpress)

Jetzt weiterlesen! !

Für 0.99 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Brauchen wir ein anderes Geschäftsmodell?

Wir brauchen ein neues Geschäftsmodell, meint Ex-Finanzminister Luc Frieden. Gemeint ist kein neues Modell für seinen aktuellen Arbeitgeber, die Deutsche Bank, sondern für Europa. Mit zwei Ko-Autoren veröffentlichte Frieden nun ein Buch zur Zukunft des Alten Kontinents.

Die Überlegung mag korrekt sein. Die Europäische Union, an die wohl die meisten Europäer denken, wenn sie Europa sagen, ist in Bedrängnis. Ihre Wirtschaft lahmt, die Arbeitslosigkeit bekommt sie nicht in den Griff, die sozialen Ungerechtigkeiten nehmen zu. Obwohl der Kontinent noch niemals zuvor so reich war wie heute. Auch in Europa wiederholt sich die weltweit seit zwei Jahrzehnten rasante Entwicklung, dass die Reichen immer reicher werden, der Rest des geschaffenen Reichtums für die große Mehrheit der anderen genügen muss. Das Ideal einer stets gerechter werdenden Gesellschaft, mit der die meisten Menschen den Begriff des zusammenrückenden Europa verbanden, verblasst in erschreckend schnellem Rhythmus.

Und doch will uns Frieden bloß ein neues Geschäftsmodell anbieten. Als ob Europa nicht mehr ist als bloß Geschäft, Business. Es stimmt: Wenn die Wirtschaft stockt, geht es der Gesellschaft und dem Staat schlecht. Doch lässt sich der Zustand einer Gesellschaft nicht nur an der Höhe ihres Wirtschaftswachstums bewerten. Auch andere Werte zählen, solche wie Gerechtigkeit, Chancengleichheit, gerechte Verteilung des gemeinsam erschaffenen Reichtums.
Die Frage, die Frieden sich natürlich nicht stellen wird, die aber im heutigen Europa zu stellen wäre, ist die nach einem anderen Sozialmodell für den Kontinent. Ein Modell, das sowohl die Wirtschaft gesunden ließe als auch die sozialen Ungleichheiten ausmerzte.

Dies allein der Wirtschaft, dem Geschäft, zu überlassen, ist unverantwortlich. Wirtschaftswachstum führt nicht automatisch zu höherem Lebensstandard für alle, Chancengleichheit für alle Kinder, materiell abgesichertem Lebensabend unter menschenwürdigen, dem Wohlstandsniveau unserer Gesellschaft entsprechenden Bedingungen.
Der Hinweis auf die Erfolgsjahre seit Ende des Zweiten Weltkriegs, um das aktuelle System als das allein selig machende zu rechtfertigen, passt nicht.

Dass sich die westlichen Gesellschaften in den vergangenen Jahrzehnten sozialpolitisch so stark entwickeln konnten, verdanken sie sicherlich der Wirtschaftsleistung und vor allem dem Fleiß ihrer Bürger. Aber auch der zumindest theoretischen Systemalternative, die Ende der 1980er Jahre geräuschlos implodierte. Natürlich waren die sogenannten osteuropäischen Länder für die „reichen“ Westler spätestens seit Ende der 1960er Jahre keine geeignete Alternative.

Doch die alleinige Existenz eines anderen Gesellschaftsmodells zwang die Wirtschafts- und Politik-Eliten im Westen zu weitreichenden Zugeständnissen an ihre Bevölkerung, erleichterte Gewerkschaften und Linksparteien den Kampf für sozialen Fortschritt. Die Auseinandersetzung zwischen beiden Systemen konnte nur aufgrund des materiellen Wohlstandsniveaus, des Umfangs sozialer und politischer Rechte gewonnen werden.

Diese Auseinandersetzung hat der Westen gewonnen und seit Jahren wird nun das Rad zurückgedreht, sozialer Besitzstand ausgehöhlt. An dieser Grundtendenz der Entwicklung unserer Gesellschaften wird auch ein neues Geschäftsmodell nichts ändern. Was gebraucht wird, ist ein neues Politik- und Gesellschaftsmodell, ein solches, das nicht die Maximierung der Rendite in den Mittelpunkt stellt, sondern die freie Entfaltung des Einzelnen.
Wo bleiben die Visionäre unter den Politikern?