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Fragile Gebilde

Fragile Gebilde

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Wenn rechtsextrem wieder salonfähig wird.

Heute und morgen feiern wir Nationalfeiertag, zusammen. Für das Tageblatt symbolisiert die von Jacques Schneider aus Einzelporträts zusammengestellte Fahne auf der ersten Seite dieser Ausgabe das, was unser Land heute ausmacht: eine bunte Mischung aus Menschen unterschiedlicher kultureller und sozialer Herkunft, die sich das Leben auf dem kleinen Fleck Erde namens Luxemburg teilen.

Umso erschreckender wirken die jüngsten Bilder, die aus den französischen Stadien und Städten zu uns herüberkamen, als aufgebrachte Hooligans auf Gleichaltrige einschlugen. Derlei Schlägereien zwischen Fans sind nichts Außergewöhnliches. Doch ihre Brutalität schockiert und sie sind vor dem Hintergrund erstarkender nationalistischer Tendenzen, auch in Europa, in einem neuen Licht zu betrachten.

In der EU hielt bisher das Versprechen einer besseren Zukunft, des zunehmenden Wohlstands für alle, auch Länder zusammen, die sich in der Vergangenheit gegeneinander aufhetzen ließen, weil sie nationalistischen Einpeitschern und ihren Hintermännern aus mächtigen Wirtschaftskreisen auf den Leim gegangen waren. Was wird, wenn nationalistische Parteien und Bewegungen wieder die Oberhand bekommen, Parteien, die eine Rückbesinnung auf nationale Werte, auf das Völkische predigen, das „Wir und die anderen“ betonen, was morgen in ein „Wir gegen die anderen“ ausarten wird?
Deshalb sind jene rechten Kräfte gefährlich, die sich heute als Verteidiger der Interessen der kleinen Leute aufspielen. Heute berufen sich der Front national, UKIP, AfD, FPÖ, die PiS und Fidesz, oder wie sie alle heißen mögen, auf gemeinsame Werte, ihre nationalistischen Werte. Sie schmieden länderübergreifende Allianzen, mit dem Ziel, die EU gemeinsam zu bekämpfen – eine sicherlich nicht perfekte Union, aber immerhin das Bindeglied, das Länder und Menschen auf diesem Teil des Kontinents zusammenhält, und ihm die längste Friedensperiode seit Menschengedenken schenkte.

Bricht diese Klammer weg, wird der Schritt zur direkten Konfrontation zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Staatszugehörigkeit, anderer Religion oder Kultur nicht mehr weit sein. Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hooligans könnten nur ein Vorgeschmack dessen sein, was dann auf Europa zukommen könnte.

Wer das für übertrieben hält, der soll beispielsweise die Zeugnisse jener lesen, die sich der weißrussischen Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch anvertrauten, insbesondere im letzten Werk ihrer fünfteiligen Serie, den „Verlorenen Stimmen der Utopie“: Secondhand-Zeit. Thema ist der Zerfall der UdSSR Anfang der 1990er Jahre. Friedliche Nachbarn, die zusammen feierten, über Mischehen familiäre Bande knüpften, mutierten zu Schlächtern. Aserbaidschaner schlachteten ihre armenischen Bekannten ab und umgekehrt, idem Georgier und Abchasier. Nebenbei wurden seit Jahrhunderten dort lebende Russen verjagt. Die Klammer, die den Vielvölkerstaat zusammenhielt, die Menschen zum friedlichen Zusammenleben zwang, war zerbrochen.
Unserem Teil Europas sollte dieses Schicksal erspart bleiben.