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GemeindewahlenBürgerlisten befinden sich auf dem Vormarsch

Gemeindewahlen / Bürgerlisten befinden sich auf dem Vormarsch
Eine Bürgerliste hat in Clerf einen politischen Wechsel herbeigeführt Foto: Editpress/Tania Feller

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Die Machtverhältnisse im politischen Spektrum des Landes ergeben mehr und mehr einen bunten Flickenteppich. Zwischen den Hochburgen von CSV, DP und LSAP sind neue Farbtupfer zu erkennen: die Bürgerlisten. Dabei bedeuten diese nicht unbedingt eine Krise des Parteiensystems.

Ein Austritt aus der Partei hatte vor gut einem Jahr die absolute Mehrheit der CSV im Gemeinderat von Clerf ins Wanken gebracht und beendet. Nach den Kommunalwahlen ist es schließlich so weit gekommen, dass die Partei etwa zwölf Prozent an Wählerstimmen einbüßte und damit die Hälfte ihrer sechs Sitze verlor. Ein Debakel für den Bürgermeister, Abgeordneten und Syvicol-Präsidenten Emile Eicher. Nach fast 30 Jahren als Gemeindeoberhaupt – zuerst von Munshausen, seit 2011 von Clerf – ist der 67-Jährige seinen Posten an der Spitze der Gemeinde los. Der bisherige Schöffe Georges Keipes von der „Biergerlëst“ hatte den Amtsinhaber um mehr als 300 Stimmen übertrumpft.

Profitiert haben von den Verlusten der Christsozialen nicht so sehr die Oppositionsparteien „déi gréng“, DP und ADR, sondern eben die Bürgerliste, die mit 30,47 Prozent der Stimmen – 2017 waren es noch 14,22 Prozent – und vier Sitzen als Wahlsieger feststeht und gegenüber der CSV (30,09 Prozent und drei Sitze) die Nase vorn hat. Die DP erhielt zwei Sitze, die anderen beiden Parteien jeweils einen. Doch diese Entwicklung ist nicht allein auf Clerf bezogen. Unter den genannten Flicken sind zehn größere zu sehen, die sich von der bisherigen Parteienlandschaft abheben. Dazu gehören auch: Ulflingen, Bissen, Parc Hosingen, Esch/Sauer, Helperknapp, Lintgen, Lorentzweiler, Wormeldingen und Frisingen. In mehreren Fällen erreichten sie absolute Mehrheiten.

Parteipolitiker auf Bürgerliste

In Ulflingen etwa gewann die „Ëlwenter Bierger Lëst“ mit 68,76 Prozent der Stimmen und ließ die „Oppe Lëscht Ëlwen“ (24,91 Prozent) und die ADR (6,33) klar hinter sich. Erstgewählter wurde Bürgermeister Edy Mertens. Der DP-Politiker lag nur eine Stimme vor dem Schöffen Guy Henckes. In Bissen überbot „Är Leit“ (69,1) die CSV (30,1). In Parc Hosingen hatte „Är Ekipp“ (90,39) ein derart überwältigendes Ergebnis, das manch einen Ortsunkundigen vielleicht an eine Ein-Parteien-Herrschaft erinnerte, wenn da nicht die zweite Bürgerliste „De fräie Bierger“ (9,61) nicht gewesen wäre. Außerdem sind „Är Leit“ eben gerade keine Partei. Auch in Esch/Sauer duellierten sich zwei Bürgerlisten: Dabei behielt die Bürgerliste „Mat Iech“ mit 67,55 Prozent die Oberhand vor der „Fräi Lëscht“ (32,45). In der Gemeinde Helperknapp lag die Liste „Engagéiert Bierger“ mit 32,23 Prozent klar vor der CSV (19,17) und der DP (18,06), der zweiten Bürgerliste „All zesummen Helperknapp“ (17,4) und den Grünen (13,13). Die beiden Bürgerlisten bilden also künftig eine Mehrheit. In Lintgen machten die „Engagéiert Bierger Lëntgen“ (43,84) das Rennen vor der „Nei Ekipp“ (35,73) und der DP (20,43). In Lorentzweiler waren „Är Leit“ mit 50,38 dominant vor der CSV (20,25) und „déi gréng“ (15,15). In Wormeldingen war es „Är Equipe fir d’Wormer Gemeen“ (54,92) vor „Zesumme fir eis Gemeen“ (45,08). In Frisingen ließ „Är Equipe“ (43,07) sowohl die LSAP (19,37) als auch die CSV (19,32) deutlich hinter sich.

Das Rathaus von Ulflingen: Das Sagen hat dort die „Ëlwenter Bierger Lëst“
Das Rathaus von Ulflingen: Das Sagen hat dort die „Ëlwenter Bierger Lëst“ Foto: Editpress/Tania Feller

Der Aufstieg der sogenannten Bürgerlisten ist zwar eng mit den Wahlen auf kommunaler Ebene verbunden, bei denen 35 von ihnen in den 56 Proporzgemeinden an den Start gingen. Was wiederum kein gutes Licht auf die etablierten Parteien wirft. Haben diese an Identifikationspotenzial verloren? Hat deren Strahlkraft nachgelassen? Lässt ihre Basisarbeit zu wünschen übrig?

Bekannt ist seit längerem, dass in Luxemburg wie in anderen europäischen Ländern die Bindung an Parteien nachgelassen hat, in einigen wie zum Beispiel in Deutschland verzeichnet die Mitgliedschaft in politischen Parteien „dramatischere Entwicklung“, stellt der deutsche Politologe Bernhard Weßels fest. „Anhand der von den Parteien berichteten Mitgliederzahlen lässt sich nachvollziehen, dass diese innerhalb von zweieinhalb Jahrzehnten etwa eine Million und damit etwa 40 Prozent ihrer Mitglieder verloren haben.“ Nachdem im Nachbarland 1990 noch 3,8 Prozent der Wahlberechtigten in politischen Parteien organisiert waren, seien es 2018 nicht einmal mehr zwei Prozent gewesen.

In Frankreich ist die Situation für die Parteien noch gravierender: Das dortige Parteiensystem gilt als notorisch instabil, die einzelnen politischen Organisationen sind noch mitglieder-, organisations- und finanzschwächer als etwa in Deutschland. Republikaner und Sozialisten ließen bei den letzten Urnengängen Federn oder stürzten gar ins Bodenlose. Derweil haben die Parteien in Belgien zwar einen großen Einfluss, die großen unter ihnen teilen sich jedoch in einen jeweils flämischen und frankofonen Ableger.

Ähnliche Entwicklungen wie in Deutschland und Frankreich sind in anderen europäischen Ländern zu beobachten. Zwar standen in den vergangenen Jahren Veränderungen der Parteiensysteme immer wieder in Zusammenhang mit rechtspopulistischen Strömungen, die sich hierzulande zum Beispiel in dem Erfolg der ADR wie bei den jüngsten Wahlen ausdrückt. Die Unzufriedenheit vor allem mit den etablierten Parteien der Mitte äußert sich aber nicht nur als Radikalisierung, sondern als „Revolution der Mitte“ – übrigens ein Begriff, der häufig auf die von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gegründete Bewegung und dann Partei „En marche“, später „La République en marche“, und seit 2022 „Renaissance“ angewandt wird. Hierbei sind es aber Wählergruppen, die als Vereinigung zu einer Wahl antreten, ohne den Status einer politischen Partei zu beanspruchen, wie der deutsche Politologe und Parteienforscher Michael Angenendt in seinem Buch „Politik abseits der Parteien“ (2021) erklärt. Demnach entstehen Wählergruppen oft aus Bürgerinitiativen, deren Schwerpunkt in der Kommunalpolitik liegt und die oft ein Sammelbecken von Parteilosen oder ehemaligen Mitgliedern einer Partei bilden. Eine besondere Rolle spielen in Deutschland die sogenannten Freien Wähler, die sich von der herkömmlichen Parteipolitik abgrenzen wollen. Sie sind vor allem in Baden-Württemberg stark vertreten, wo sie 44 Prozent aller Gemeinderäte und 24 Prozent aller Kreisräte stellen, und haben sich im Bundesverband der Freien Wähler zusammengeschlossen. Lange Zeit seien, wie Angenendt konstatiert, kommunale Wählergemeinschaften ein „blinder Fleck“ in der Politikwissenschaft gewesen.

Tarnmantel Bürgerliste

Auch hierzulande scheinen die Parteien vor allem ihre Verankerung in den Gemeinden allmählich zu verlieren. Aufgrund der Zunahme von Proporzgemeinden um zehn auf nunmehr 56 im ganzen Land ist es für die Parteien vor allem schwieriger geworden, eine Liste zu bilden. Aus diesem Grund, neben einer allgemeinen Politik- bzw. Parteienverdrossenheit, stoßen die Bürgerlisten in jene Lücke. In nicht wenigen Fällen finden sich jedoch Mitglieder einer Partei in ihren Reihen. Bei genauerem Hinsehen sind es also oftmals gar keine echten Alternativen zu Parteien, sondern Parteipolitiker unter dem Tarnmantel einer Bürgerliste. So gab es etwa dieses Jahr in Mersch keine LSAP-Liste mehr, aber die Bürgerliste „Är Leit fir Miersch“, auf der acht LSAP-Mitglieder kandidierten. Insgesamt waren die Sozialisten, außer in den 39 Gemeinden, in denen sie eigene Listen hatten, in 13 weiteren auf offenen Listen angetreten. Die CSV war, wie das Tageblatt berichtete, in zehn Proporzgemeinden auf einer offenen Liste vertreten, die DP in sechs, ebenso „déi gréng“. Übrigens waren die Grünen, in Luxemburg 1983 gegründet, einst 1977 in Deutschland aus einer „Grünen Liste Umweltschutz“ hervorgegangen, bevor sie 1980 als Partei gegründet wurden. Die Bürgerlisten können manchmal zu Recht als basisdemokratische Graswurzelbewegungen bezeichnet werden, die das Parteiensystem herausfordern, revitalisieren und aus denen wiederum selbst Parteien hervorgehen können.