Von der Größe und Bevölkerungszahl her könnten sie kaum unterschiedlicher sein – doch was haben Luxemburg und die Provinz Buenos Aires gemeinsam? Ganz einfach: Wer sich als Ausländer im Großherzogtum und in der bevölkerungsreichsten argentinischen Provinz bei Kommunalwahlen in eine Wählerliste eintragen lässt, für den gilt fortan Wahlpflicht. Sowohl in Luxemburg als auch am Río de la Plata können Ausländer Gemeinderäte werden. Einen kleinen Unterschied gibt es trotzdem: Der Posten des Bürgermeisters bleibt in den Kommunen der Provinz Buenos Aires den einheimischen Staatsbürgern vorbehalten.
Als Jinghua Wu nach Luxemburg kam, stellte er überrascht fest: „Wahnsinn, ich darf wählen!“ So erinnert sich der 35-jährige Risk Manager aus China. „Ich war richtig happy, auf diese Weise in das politische Geschehen involviert zu werden. Für mich ging es vor allem darum, in die lokale Gemeinschaft integriert zu werden und ein Teil von ihr zu sein. Deshalb suchte ich Möglichkeiten, wie ich mich miteinbringen konnte.“
Einen Weg stellte für ihn der Gemeinschaftsgarten in seiner Gemeinde Schüttringen dar. Jinghua erzählt, wie er bei einem Biodiversitätstag Kontakt zu „déi gréng“ knüpfte – und wie er an den ersten Meetings und Veranstaltungen der Grünen teilnahm. „Ich interessierte mich zwar schon immer für Politik, aber aktiv wurde ich erst hier in Luxemburg“, sagt er. „Und es war vor allem der lokale Bereich, der mich besonders ansprach, denn hier in Luxemburg ist schon die unmittelbare Nachbarschaft sehr international.“
Eine Frage der Mitsprache
Den meisten nicht-luxemburgischen Kandidaten bei den Kommunalwahlen geht es zuallererst um eine Form von Mitsprache, wenn sie sich in die Wählerlisten eintragen. Dieses Jahr sind es etwa 50.000 Personen, damit ist eine Quote von 19,8 Prozent erfüllt. Ein weiterer Schritt ist es dann, sowohl für EU- als auch für Nicht-EU-Bürger das passive Wahlrecht wahrzunehmen, also sich wählen zu lassen. Hierbei ist der Anteil noch ausbaufähig. Allerdings führt mittlerweile jede Partei Nicht-EU-Kandidaten in ihren Listen: vom rechten Teil des Spektrums, etwa von der senegalesischen Kandidatin oder dem US-Rentner auf der ADR-Hauptstadtliste, bis nach links außen, dem iranischen Taxifahrer bei der KPL.
Für die meisten dieser Kandidaten ist es eine Premiere, manche hatten sich bisher nicht politisch engagiert – etwa Márcio Eduardo Lourenço Gonçalves: Der 47-jährige Brasilianer lebt seit 13 Jahren in Luxemburg und ist seit vier Jahren Mitglied der CSV. „Mein Nachbar hatte mich erstmals zu einer Veranstaltung und Meetings der Partei eingeladen“, sagt der Familienvater und Geschäftsmann aus São Paulo, der zuvor zehn Jahre in Portugal gelebt hatte, bevor er nach Luxemburg kam. Er will sich nach eigenen Worten vor allem für mehr gesellschaftliches Miteinander einsetzen, für die Interessen der ausländischen Bürger und für mehr erschwinglichen Wohnraum – Themen, die von fast allen befragten Kandidaten genannt werden. Aller Anfang sei schwierig gewesen, erinnert sich Márcio Eduardo Lourenço Gonçalves, „vor allem sprach ich kaum Französisch“.
Die Sozialisierung fand bei vielen der Befragten vor allem über die Familie statt. „Meine Partnerin ist Französin, meine Kinder wachsen hier auf und besuchen die Internationale Schule in Differdingen“, sagt etwa Craig Williams. Vorher habe er sich nicht vorstellen können, bei Wahlen anzutreten, so der 46-jährige Australier, der seit 14 Jahren in Luxemburg lebt, seit zwölf in Käerjeng, sich mittlerweile bei den Piraten engagiert und auf der Liste des örtlichen Spitzenkandidaten Vincenzo Turvarelli steht. Selbstverständlich interessierten ihn vor allem die kommunalen Themen, so Williams. Einer der Schwerpunkte auch der Käerjenger Piraten: die umstrittene Umgehungsstraße von Bascharage.
José Mauricio lebt zwar seit 22 Jahren in Luxemburg, war aber schon in seiner alten Heimat Kap Verde politisch aktiv. „Damals engagierte ich mich für die MpD in meiner Heimatstadt Ribeira Grande“, erzählt er. Der Movimento para a Democracia (MdP) gilt als liberal und ist die Partei des früheren Präsidenten Jorge Carlos Fonseca. So war es für José Mauricio fast naheliegend, sich hierzulande der DP anzuschließen. Bei den Liberalen hat er hierzulande seine politische Heimat gefunden. „Ich kam mit Mitgliedern der Partei ins Gespräch, als diese einen Stand in Petingen hatte“, erzählt der 52-jährige Angestellte von Ferrero, der sich als politischen Menschen sieht und den auch die nationale Politik in Luxemburg interessiert, der aber auch weiß, dass der Weg über die Kommune eine gute Gelegenheit bietet, am politischen Leben teilzuhaben und sich zu integrieren. Und für José Mauricio ist klar: „Auch wenn ich nicht gewählt werden sollte, will ich weitermachen.“
Ich habe früh erfahren, wie wichtig Politik im Leben ist
Als eine Etappe auf seinem politischen Weg ist auch die Kandidatur von Gledis Kryeziu zu verstehen. Der 27-jährige Freiberufler sowie Soziologie- und Geschichtsstudent floh als Kind mit seinen Eltern aus Albanien. „Ich habe früh erfahren, wie wichtig Politik im Leben ist“, sagt er. In einer politischen Familie aufgewachsen, begann er sich in Luxemburg früh zu engagieren, zuerst bei den Jungsozialisten hierzulande sowie auch auf internationaler Ebene. „Ich fand vor allem in Düdelingen ideale Bedingungen vor, die Atmosphäre war geradezu familiär“, erinnert er sich. „Während Politiker in Albanien wie Hohepriester auftreten, war es hier ganz anders.“ Insbesondere LSAP-Politiker wie Alex Bodry und Mars di Bartolomeo imponierten ihm. Politiker zum Anfassen. Schnell hegte Gledis Kryeziu politische Ambitionen, er war auf den Geschmack gekommen. „Oder wie ich sagen würde: Ich hatte Blut geleckt“, erzählt er. Ganz der Lokalpolitiker, ist Gledis Kryeziu in mehreren gesellschaftlichen Bereichen aktiv, etwa im Handballverein HBD oder im lokalen Geschäftsverband. Den Nachwuchspolitiker sollte man auch in der Nationalpolitik auf der Rechnung haben.
Im Vergleich zur sozialistischen Traditionspartei hat es Tatev Manukyan bei Fokus mit einer politischen Neuschöpfung zu tun, die gerade mal ihren ersten Geburtstag gefeiert hat. Ein „new player“ in der hiesigen politischen Landschaft. „Es ist eine Herausforderung sowie eine große Ehre, von Beginn an bei diesem politischen Projekt mitzuwirken“, sagt die 34-jährige Wirtschaftswissenschaftlerin, die im Finanzsektor arbeitet, vorher für eine Organisation in Brüssel arbeitete, sich von 2020 bis zum vergangenen Jahr als Honorarkonsulin Armeniens in Luxemburg für den Austausch der beiden Länder engagierte und nun für die von ihrem früheren Ehemann Frank Engel ins Leben gerufene Partei einsetzt und auf deren von Marc Ruppert angeführten Liste in der Hauptstadt antritt. „Ich bin die erste Armenierin, die hierzulande bei einer Wahl kandidiert“, sagt Tatev Manukyan stolz. „Mir geht es darum, eine Brücke zwischen meinem Heimatland und Luxemburg-Stadt, wo etwa 70 Prozent der Einwohner nicht-luxemburgische Staatsbürger sind und so viele unterschiedliche Nationalitäten nebeneinander leben, zu bilden.“
Flucht mit neun Jahren
Für Frank Engels ehemalige Partei, die CSV, tritt Solmaz Jodairi Saber an. Die 24-Jährige nennt die Beteiligung an politischen Entscheidungen „ein zutiefst persönliches Anliegen, da meine Familie unter der politischen Repression im Iran enorm gelitten hat“. Ihre Familie musste den Iran verlassen, als Solmaz Jodairi Saber gerade mal neun Jahre alt war. Ihr Vater war bereits im Alter von 16 Jahren aufgrund seiner politischen Aktivitäten verhaftet, für fünf Jahre eingesperrt und gefoltert worden. Im Jahr 1988 war er Zeuge eines Massakers, als Tausende Menschen hingerichtet wurden, ihre Mutter hatte im Kampf für die Freiheit zwei Brüder verloren.
Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder das Recht auf Demokratie verdient
In Luxemburg hat die Familie eine neue Heimat gefunden. Umso mehr fühlt sich Solmaz auch Themen wie Menschenrechten und der Demokratie verpflichtet. „Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder das Recht auf Demokratie verdient, unabhängig von seinem Glauben oder seiner Weltanschauung.“ Als junge Frau iranischer Abstammung und mit luxemburgischer Erziehung fühle sie sich bei den Christsozialen politisch beheimatet, sagt die ADEM-Berufsberaterin und interkulturelle Mediatorin für das Bildungsministerium. Nicht zuletzt ist sie Mitglied bei der „Association humanitaire pour les droits de l’Homme et la démocratie en Iran“, die regelmäßig Protestveranstaltungen organisiert. Seit vergangenem Jahr ist sie auch Mitglied der Integrationskommission in Bettemburg.
Die gebürtige Syrerin Nouha Al Koudaymi tritt in Clerf an. „Alles begann mit einer wunderbaren Freundschaft mit einigen Frauen, die mich motivierten, mitzumachen.“ Ihre Freunde von „déi gréng“ hätten sie dazu überredet, zu kandidieren. Zu ihren thematischen Schwerpunkten zählt „alles, was mit den Kindern und ihrem Wohlergehen zu tun hat, wie zum Beispiel das Schulsystem“. Darüber hinaus unterstütze sie die grünen Ideen. Bevor sie nach Luxemburg kam, habe sie sich nur mäßig für Politik interessiert. Für sie sei die Familie die wichtigste Einheit in der Gesellschaft: „Wenn sie fehlerhaft ist, dann ist auch die Gesellschaft fehlerhaft.“ Nouha Al Koudaymi schätzt sich als eher schüchternen Menschen ein: „Ich erledige meine Arbeit lieber im Stillen und ohne Medien.“
Wie für viele Nicht-EU-Kandidaten ist es für auch Aseem Rajan Kshirsagar ein politisches Debüt. „Ich war schon in Indien politisch aktiv, allerdings nicht für eine Partei, sondern im zivilgesellschaftlichen Bereich“, erzählt der 28-Jährige, der an der Universität Luxemburg im Bereich Physik und Materialwissenschaften forscht. „Allerdings trifft man dort kaum auf Luxemburger“, stellt er fest. „Man lebt wie in einer Blase. Da ich mich für die Politik hierzulande interessierte, schrieb ich ‚déi Lénk‘ an.“ Er habe beobachtet, dass ein großer Teil der Migranten gar nicht wüsste, dass sie wählen dürfen. Dabei seien gerade seine indischen Landsleute, von denen in den vergangenen Jahren immer mehr ins Land kamen, sehr an der politischen Partizipation interessiert.
Viele wählende Inder
Mittlerweile stellen die Inder die Gruppe an Nicht-EU-Bürgern hierzulande dar, unter denen der Anteil an in die Wählerlisten Eingeschriebenen am höchsten ist. „In Indien ist das Gemeinschaftsleben viel stärker ausgeprägt“, sagt Aseem Rajan Kshirsagar, „und sie sind es gewohnt, an ihrem Wohnort zu wählen.“
Der „déi Lénk“-Kandidat schätzt für die nächsten Kommunalwahlen die Beteiligung noch höher ein: „Das könnte ein Game-Changer sein.“ Allgemein ist neben der Inklusion der Migranten die Wohnungsbaupolitik ein Schwerpunkt. Darüber sei ihm vor allem der öffentliche Wohnungsbau wichtig. Ihm schwebt eine Form der Urbanisierung vor, bei der Menschen aus mehreren Schichten, Nationalitäten und Generationen zusammenleben.
Das Gegenteil von Ghettoisierung – und nicht nur für die Immigranten unter den Wählern und Nichtwählern ein wichtiges Thema.
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