Wer die Schnauze voll hat von Musikern, die tagtäglich das gleiche Set herunterspielen, manchmal nicht mal so recht wissen, in welcher Stadt sie gerade spielen und es zelebrieren, wenn sie nach zehn Sets einen längst vergessenen Song aus der Reserve kramen, sollte unbedingt mal ein Konzert von Martin Kohlstedt besuchen (1).
Bei Martin Kohlstedt ist jeder Auftritt anders – denn jeder Abend ist komplett improvisiert: Kohlstedts Songkathedralen beginnen mal als kindliche Klavierminiatur, mal als ungestümes Electrobiest mit verdammt tanzbaren Beats. Es ist Musik, die aus dem Nichts entsteht – und die deswegen, teilweise zur großen Verwirrung der Musikkritik, überall hin kann.
„In jedem Land wird meine Musik anders bezeichnet: In UK ist es Jazz, in Italien Electronica, in Russland Neoklassik, in Amsterdam Contemporary Classic, in Deutschland wird sie sogar teilweise als Popmusik kategorisiert. Wenn man improvisiert, möchte man auf keinerlei Argumente verzichten. Deswegen darf da auch mal … also Kitsch ist ja nichts anderes als eine Angst des Menschen, es ist eine direkte Aussage, die wir nicht abkönnen. Ich kann mit verschränkten Armen einem Sonnenuntergang zusehen und behaupten, dass ich das nicht schön finde – oder ich gehe darauf ein, verwerte es in meiner Musik, um es dann aber wieder zu verwerfen, indem ich beispielsweise mit White Noise darüber wasche, indem ich die Vergangenheit in die Gegenwart zwinge.“
Jeder Mensch landet ein bisschen bei sich, bei dieser Musik
Wer Martin Kohlstedt zuhört, wie er versucht, seinen Kompositionsprozess so präzise wie möglich in Wörter zu packen, merkt, wie sehr sich seine stetige Such nach Klangbildern, nach Abbildung, nach Ausdrücken auch in seinen Gedankenprozess einnistet. Kohlstedt gibt keine im Vorfeld konzipierten Antworten, er lässt den Zuhörer Teil seines Überlegungsprozesses werden – weswegen die Kommunikation mit den Zuschauern auch ein maßgeblicher Teil seiner Konzerte ist.
„Ich bin immer wieder zuversichtlich, dass ich mit dem Konzept durchkomme. Aber zehn Minuten, bevor ich auf die Bühne gehe, habe ich gar keine Munition – denn ich überlege ja dann erst, was entstehen könnte. Da, zu genau dem Zeitpunkt, da knickt nochmal alles ein.“ Laut dem französischen Philosophen Clément Rosset ist die Wirklichkeit immer dann am bedrohlichsten, wenn etwas Forderndes unmittelbar bevorsteht: Lange vor dem Auftritt liegt alles noch in beruhigender Ferne – und im Eifer des Gefechts hat man gar keine Zeit und einen zu großen Adrenalinzuschuss, um sich noch Sorgen zu machen.
Möglichkeitsräume erforschen
Zwei Stunden vor seinem Auftritt in der Brüsseler Ancienne Belgique sitze ich mit Martin Kohlstedt in einer Backstage-Loge. Der Musiker wirkt entspannt, ist im guten Sinne aufgeregt, in wenigen Stunden auf der Bühne der kultigen Venue auftreten zu dürfen. Was genau auf der Bühne passieren wird – das weiß Kohlstedt noch nicht. Nur dass etwas passiert – das ist unumgänglich. „Jeder Mensch landet ein bisschen bei sich, bei dieser Musik. Heute im Konzert passiert das auch – das Entertainment ist dabei ein bisschen ein Abfallprodukt dieser Sache, dass da eine aktive Kommunikation stattfindet.“
Wie genau das passieren wird, ist auch noch ungewiss – nur ist es Kohlstedt wichtig, eine Art Werkzeugkasten, ein „Toolsystem“, wie er sagt, bei Hand und Fuß zu haben, um zu jedem Zeitpunkt alle musikalischen Möglichkeitsräume erforschen zu können. Oft spielt dabei eine Hand eine Melodie auf dem Klavier, während der Fuß eine Pedale betätigt und die andere Hand an einem Knopf dreht – und der Kopf ist wohl bereits beim nächsten Akkord, der nächsten Klangeinstellung. In diesen Momenten, in denen Kohlstedt inmitten seiner Instrumente steht wie der Pilot eines Raumschiffs, erinnert er mich ein wenig an Nils Frahm, dessen letzten Konzerte in der Luxemburger Philharmonie unvergesslich bleiben.
„Momentan ist alles sehr ausgeglichen: Ich habe die Möglichkeit, krasse Beatstrukturen auf der Bühne zu schaffen, kann aber schleunigst wieder auf den leisesten Ton auf einem der Instrumente zurückkehren. Es ist diese Spannweite zwischen den Tiefen, dem White Noise, den Effect Boards, die mich interessiert: Ich muss alles sehr schnell erreichen können, damit ich dem Gedanken folgen kann. Dafür muss ich die Geräte bis aufs Tiefste kennen – die Elektronik ist kein i-Tüpfelchen mehr, sondern eines von zwei vollwertigen Bestandteilen, die in einem Dualismus aufeinanderprallen und mal vereinigen, mal abstoßen. Das ist das Benzin, der Treibstoff.“
Besser scheitern
Für Kohlstedt ist das Scheitern dabei Teil des Prozesses, im Gegensatz zu vielen Kulturschaffenden gilt für ihn das bekannte Beckett-Zitat – „Wieder Versuchen. Wieder Scheitern. Besser Scheitern“ – nicht als stumpfer Motivationsspruch, sondern ist ein wesentlicher Bestandteil der Klangreise, auf die er seine Zuhörer mitnimmt.
So warnt er am Sonntag in der Ancienne Belgique: „Das nächste Stück könnte mächtig schiefgehen. Aber versuchen wir’s trotzdem.“ Ein paar Sci-Fi-Synthies und Beats später bricht er den Versuch dann auch (leider) ab, schmunzelt, winkt ab, ein „Ich hab’s euch doch gesagt“ liegt auf seinen Lippen, er setzt sich ans Klavier und fängt an, einen Einblick in den eigenen Schaffensprozess zu geben, bevor er mit sowas wie einem klassischen Song beginnt – der Musiker sieht diese Zwischeneinlagen als eine Art „Gehirn-Reset“, das es ihm erlaubt, neuen Mut für die nächste improvisierte Nummer zu schöpfen.
Kitsch ist ja nichts anderes als eine Angst des Menschen, es ist eine direkte Aussage, die wir nicht abkönnen. Ich kann mit verschränkten Armen einem Sonnenuntergang zusehen und behaupten, dass ich das nicht schön finde – oder ich gehe darauf ein, verwerte es in meiner Musik, um es dann aber wieder zu verwerfen, indem ich beispielsweise mit White Noise darüber wasche.
„Modularer Kompositionsprozess“ nennt Kohlstedt seine Herangehensweise an das Schreiben. Klingt verkopft, hört sich in der klavieristischen Live-Umsetzung aber gar nicht so an – und wirkt nach Kohlstedts Erläuterungen gar nicht mal so kompliziert.
Alles beginnt damit, dass Kohlstedt als Kind die Klavierunterrichtklassiker abklappert – als Soundtrack zu dieser Kindheitsanekdote spielt er den Beginn von Yann Tiersens „Comptine d’un autre été, l’après-midi“ aus dem weltbekannten Amélie-Poulain-Soundtrack.
Nach und nach entdeckt der junge Musiker aber Muster, Echos, Parallelen – auf die melancholischen Akkorde von Yann Tiersen spielt er nun tatsächlich mit der linken Hand Phil Collins kitschiges „Another Day in Paradise“ – und beginnt so langsam, sich ein eigenes Vokabular zurechtzulegen. Erst mal nur für sich selbst, um sich in der Musikwelt zurechtzufinden, um sie zu kodifizieren, den wiederkehrenden Mustern einen Namen zu geben oder einen Katalog für das, was im Kopf passiert, zu erstellen.
Die Endgültigkeit wegnehmen
„Ursprünglich bin ich gelernter Programmierer. Ich habe an der Bauhaus-Universität Weimar studiert und Plug-ins geschrieben. Deswegen habe ich bei mir die Intuition herausgearbeitet – weil es das Einzige war, das ich nicht mit der Tastatur einfangen konnte. Als ich gemerkt habe, dass es verschiedene Muster gibt, die immer wieder Teil der Erzählung sind, hat sich bei mir ein Vokabular gebildet. Ein sich wiederholendes Muster habe ich mit drei Buchstaben gekennzeichnet. Früher waren das auch mal Namen, aber wegen der Wertfreiheit, weil jeder das Recht haben sollte, frei über die Musik zu walten, frei seinen eigenen Film in sie hineindenken zu dürfen, war es mir wichtig, diese Muster viel mehr als kryptisch festgehaltene Prozesse abzuspeichern – auch wenn ich diese weiterhin wie Namen ausspreche und sie für mich wie Lebewesen wachsen, sich weiterentwickeln.“
Wenn ich das Ding jetzt ‚Sommerallee‘ nenne, dann kommt niemand wieder aus diesem Mist raus
Denn dieses Vokabular, aus dem sich erste Tracks, Songfragmente oder Skizzen herausschälen und die Kohlstedt dann auch auf ersten Platten wie „Tag“ und „Nacht“ festhält, sind keineswegs in Stein gemeißelt – es sind Module, die sich im Laufe der Jahre weiterentwickeln, die wie ein „Foto von einem Stück zu dem und dem Zeitpunkt“ sind, die sich aber im Laufe der Zeit verwandeln: „Aus OHM auf ‚Tag‘ wurde LEH auf ‚Nacht‘ wurde AMS auf ‚Strom‘ wurde AMSOMB auf ‚Ströme‘ – es gibt einen Stammbaum dieser Stücke, die ich durch das Aneinanderketten dieser Silben für mich zurückverfolgen konnte. Ob man jetzt Zahlen vergibt oder ein Stück ‚Phantasma‘ nennt – das verzerrt die Wahrnehmung, dann kommt sofort die linke Gehirnhälfte, kommt die bewusste Aufnahme, das Analytische. Denn wenn ich das Ding jetzt ‚Sommerallee‘ nenne, dann kommt niemand wieder aus diesem Mist raus.“
Der Prozess ist in der instrumentalen Musik nicht unüblich: Die Songnamen der Postmetaller von Russian Circles bedeuten meist gar nichts, und die Schotten von Mogwai bevorzugen meist lustig-dämliche Songtitel wie „I Love You, I’m Going to Blow Up Your School“, um etwaige Korrelationen zwischen Semantik und Form, Name und Klang zu dekonstruieren.
„Es geht mir darum, der Sache die Endgültigkeit wegzunehmen – wenn ich ein Stück ‚Wolke‘ nenne, ist es quasi ein Endprodukt. Aber sowas gibt es bei mir ja in dem Sinne nicht, da ich mit den Stücken bloß die Gestaltung eines Musters zu einem bestimmten Zeitpunkt festhalte“ – und Kohlstedts Klangwolken sozusagen stets andere Formen annehmen. „Der Name ist einfach eine Kodierung für eine Herangehensweise. Ab einem bestimmten Veränderungsgrad, einer gewissen Anzahl an Zellteilungen ändern die Stücke deswegen dann auch ihre Namen.“
Gegen die Elitisierung Crémant-schwenkender Architkekten
Neoklassik, Postklassik, Postrock, Ambient, Electronica: Martin Kohlstedt ist nicht der einzige Musiker, bei dem sich die Kritiker schwertun, den berühmten Genrestempel aufzudrücken. Im Allgemeinen fällt diese Sache mit dem Genre bei einer ganzen Reihe an klanglich verwandten Bands oder Solokünstlern (Wittgenstein würde von Familienähnlichkeit reden), die sich an der Schnittstelle zwischen Jazz, klassischem Soloklavier, Ambient und elektronischer Musik befinden, nicht so leicht: So spielten GoGo Penguin aus Manchester einst als Jazzband in der Luxemburger Philharmonie, bevor sie wenig später Headliner des Noise-, Post- und Indierockfestivals Out of the Crowd (2) waren.
Um der Gefahr, dass diese Musik im hohen Tempo elitisiert wird und dann wieder den Crémant-schwenkenden Architekten gehört, entgegenzuwirken, gehe ich zwei Schritte zurück, überlasse die Improvisation auch nicht dem Jazz oder dem Ambient: Ich versuche, Leichtigkeit reinzubringen.
So ganz sieht sich Kohlstedt aber nicht in dieser Musikkategorie – beziehungsweise sieht er die Gefahr, die genau diese Kategorie birgt: „Es gibt keine angestrebte Relation, obwohl ich den Großteil dieser Musik mag. Das sind alles wunderschöne Klangreisen. Ich kann mich nur nicht ganz dort sehen, weil die Gefahr bei dieser Art Musik besteht, dass sie im hohen Tempo elitisiert wird und dann wieder den Crémant-schwenkenden Architekten gehört. Deswegen gehe ich da gerne zwei Schritte zurück und überlasse auch die Improvisation auch nicht dem Jazz oder dem Ambient: Ich versuche, die Leichtigkeit da reinzubringen und durch das Scheitern ein neues intuitives Genre daraus zu machen. Weil dann ein Klavier und ein paar elektronische Instrumente da stehen, klingt das unausweichlich manchmal wie andere.“
Flur und Feld
Für Martin Kohlstedt ist die neue Platte „Feld“ nicht nur ein neues Kapitel, sondern gar der Beginn einer neuen Geschichte. „Als ich begann, mein Vokabular zu erstellen, gab es diese Idee, den organischen, fest werdenden Klängen der Synthesizer etwas entgegenzusetzen, damit alles flüssig bleibt. Mit der eintretenden Pandemie ist nicht nur die Zeit stehen geblieben, auch der mit meinem elektroakustischen Gebilde einhergehende Diskurs – diese Idee, dass ich was ans Publikum gebe und etwas zurückkriege – stagnierte.“
Erst mal war es für Kohlstedt aber eine gesunde Zeit, die es im erlaubte, zurück in dieses „kindliche Klavierspiel“ zu kippen – wovon seine Platte „Flur“ zeugte. „Was während der Pandemie künstlerisch wahnsinnig wertvoll war, war, dass man in einer Art Zeitlosigkeit Musik komponieren konnte – jeder Tag schien gleich, wurde durch nichts, durch keine äußeren Einflüsse außer Wind oder Vögel angetrieben. Es gab in Weimar nicht einmal vorbeifahrende Autos.“
Nach und nach kam dann aber wieder die Reibung: „Die Welt wurde sensibler, alles wurde schlipstreterischer. All diese Ängste – Inflation, Klimawandel, der Krieg, der zur Absage unserer Russland-Tour führte – haben sich mit dieser Aufbruchstimmung, die einem den Eindruck vermittelte, eine nächste Generation würde jetzt übernehmen und vieles besser machen, gerieben. Es war genau diese doppelte Energie, die bei mir den Damm gebrochen hat – all diese Elemente mussten künstlerisch oder musisch verarbeitet werden und wurden aus mir herausgedrückt, wie aus einer Tube.“
Als Kohlstedt merkt, dass ein Ende der Pandemie in Sicht ist und Aufritte wieder möglich werden, fühlt es sich wie eine Art Aufbruch an, wie er ihn auf Platte noch nie abgebildet hat. „Live ist sowas schon öfter passiert – aber dieses Album quasi intuitiv aus dieser Aufbruchsstimmung heraus entstehen zu lassen: Das war neu.“ Dieser neuartige Prozess ergab ganz viele Skizzen, die innerhalb von etwa 20 Minuten entstanden – Kohlstedt nennt es eine „Überschwemmung von Kurzweiligkeit“.
Den Ideenfluss kuratieren
„Das muss man dann einfangen können – weswegen ich ein Set-up habe, das immer steht. Ich habe diese Ideen dann aufgenommen, mal morgens um vier, mal tagsüber. So ergab sich eine neue Art, Musik festzuhalten: Die Idee war, diesen Session-Charakter auf dem Album beizubehalten, keine Schnitte anzuwenden, sich zu weigern, dies zu einem Hit zu machen oder jenes weiter zu bauen, sondern stattdessen die eigentlich noch recht rohen Grundgedanken zu mastern.“
Der Weg von der Improvisation zum fertigen Track ist dann nur noch ein kleiner „Switch des Mindsets“: „In dem Moment, in dem man sich eine Erlaubnis erteilt, die Dinge so walten zu lassen, wie sie kommen, ist es auf einmal eine Dokumentation. Irgendwann habe ich festgestellt, dass ich meine Musik und ihren Kompositionsprozess dokumentiere. An das Endprodukt zu denken, sorgt immer dafür, dass die linke Gehirnhälfte darüber geht und bügelt, es komplexer und besser und intelligenter machen will wie der eigentliche Urgedanke, weil man glaubt, zu wissen, was das sei. Ich habe früh gemerkt, dass ich mir durch einen solchen Prozess die Stücke zerschneide: Ein falscher Schnitt an so einem zarten Lebewesen – und es stirbt dir unter deinen Händen weg. Ich war richtig streng mit mir, habe die 20 aufgenommenen Minuten auf sieben reduziert, habe versucht, das Frickeln und Schrauben so weit wie möglich sein zu lassen. Der Veredelungsprozess am Ende – da war das Stück eigentlich schon fertig, das war dann nur noch der Rahmen, der angesetzt wurde.“
An das Endprodukt zu denken, sorgt immer dafür, dass die linke Gehirnhälfte darüber geht und bügelt, es komplexer und besser und intelligenter machen will wie der eigentliche Urgedanke, weil man glaubt, zu wissen, was das sei.
So beschränkte sich die bewusste Arbeit an „Feld“ auf das Kuratieren – es galt, zwölf von den 50 Tracks, die aus dem Arbeitsprozess resultierten, zu wählen und diesen die Struktur, die Dramaturgie und den Spannungsbogen zu verleihen, die aus ihnen das Album „Feld“ machen würden. Das Resultat ist eine Platte, auf der jedes Stück schlüssig und wie eine Monade in sich geschlossen funktioniert – und die man dennoch von Anfang bis zum Ende durchhören sollte.
Gute Aussichten
„Diese elektronischen Druckluftbogen mit Klavierstücken und Fender Rhodes zusammenzubringen ist eh schon nicht einfach – es ist ja kein Ambient-Album, sondern eine Reise, eine Emanzipation. Die Dramaturgie, der Bogen, das Kuratieren: Das war die reflektive Arbeit. Der Rest – das bedeutet laufen lassen, die richtigen Zeitpunkte abwarten und ehrlich mit sich zu sein, sich nicht vom eigenen Kopf veräppeln zu lassen.“
Die restlichen, (noch) nicht verwerteten „Aussichten“, wie Kohlstedt seine für „Feld“ aufgezeichnete Ideen nennt, werden allerdings nicht verworfen: „Es gibt eine Art Bibliothek des eigenen Vokabulars – Aussichten, die es nicht auf das kuratierte Album geschafft haben, werden vielleicht für eine Filmmusik verwendet, oder sie reifen noch weiter und sind später eine Inspiration für etwas anderes. Es gibt schon eine Art Ausschuss – aber der Rest ist genauso wichtig als abgebildeter Prozess, der halt noch nicht ganz reif war oder zu weit vom Kontext des Albums entfernt.“
Angesichts der Qualität von „Feld“ – meiner Meinung nach Kohlstedts bisher stärkstes Album – darf man durchaus gespannt sein, was der Musiker mit den restlichen Ausschüssen anstellen wird.
(1) Das Konzert am heutigen Abend in Neimënster (Salle Robert Krieps) ist leider bereits ausverkauft.
(2) Die diesjährige Auflage des Festivals findet am kommenden Samstag statt.
Weiterhören
Wem die betörenden Aussichten auf Martin Kohlstedts „Feld“ gefallen haben, sollte sich die Neuerscheinungen von GoGo Penguin, Grandbrothers und Tim Hecker anhören.
Never judge an album by its cover: Entgegen dem, was Albumname und Cover vermuten lassen, hat GoGo Penguin nach dem Krebstod von Bassist Nick Blackas Mutter und Bruder und der Trauer um Pianist Chris Illingworths Großmutter keine meditative Alles-wird-gut-Platte geschrieben. Das Trio, das seinen neuen Schlagzeuger Jon Scott bereits mittels der E.P. „Between two Waves“ ins warme Wasser ihres Elektro-Klassik-Jazzs geworfen hatte, klingt auf dem sechsten Album weniger streberhaft-komplex und sucht die Schönheit nun im ruhigen Zusammenspiel von Klavier, Elektronik, knarzendem Kontrabass und synkopiertem Schlagzeug. Textur ist mittlerweile wichtiger als Rhythmus, der wabernde Elektro ist kein Kontrapunkt mehr, sondern ein stetiger Begleiter. „Everything Is Going to Be OK“ pendelt zwischen Euphorie und Bedacht, so zwingend wie beim Frühwerk sind die Tracks aber leider nur noch selten.
Wie es das schöne Cover verrät, durften die Grandbrothers ihr neues Album „Late Reflections“ im Kölner Dom aufnehmen – ihre elektronischen Klavierkathedralen klingen dabei dank flächiger Ambient-Synthies und anspruchsvoller Electronica immer atmosphärischer, das verspielte Klavier kommt trotzdem nicht zu kurz. Die Platte klingt nur selten gotisch und dunkel, der Aufnahmeort wird hauptsächlich durch das Erhabene, das sich in der verhallten Atmosphäre herausschält, reflektiert. Mit „Late Reflections“ veröffentlicht Grandbrothers eine lichtdurchflutete Platte, deren Highlights an Nils Frahm („On Solid Ground“) oder an das Frühwerk von GoGo Penguin („North/South“) erinnern.
Wer es lieber dunkel und bedrohlich mag, sollte sich „No Highs“ des Meisters schauerlichen Ambients Tim Hecker anhören. Der Albumtitel reiht sich dabei in die Verweigerungshaltung Heckers ein – genauso wenig, wie man auf dem Meisterwerk „Ravedeath, 1972“ die „Hatred of Music“ (gleich zwei Tracks hießen dort so) verspürte, fehlen diesem dunklen Werk die Höhen. Nach der Soundtrackarbeit am bedrohlichen „Infinity Pool“ knüpft Hecker an die dunkel-nebeligen Soundscapes von „Ravedeath, 1972“ an und zeigt, wie schön seine musikalische Erforschung der Dunkelheit, wie emotional fordernd die vermeintliche „Monotony“ dieser Klangwelten sind. Und Colin Stetsons Saxofon-Einlagen sind absolut grandios.
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