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TheaterWas in der Turnhalle passiert, bleibt in der Turnhalle: „Körper am Ende der Welt“ im Merscher Kulturhaus

Theater / Was in der Turnhalle passiert, bleibt in der Turnhalle: „Körper am Ende der Welt“ im Merscher Kulturhaus
Beweglichkeit, Talent, Willenskraft, Ehrgeiz, Verzicht, Beweglichkeit, Stressresistenz, Musikalität und Muskelkraft – viel mehr verlangt Trainerin Marion (Rothhaar, links) nicht von ihrer Sportlerin Rahel (Jankowski) (C) Daniel Jarosch

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Nach ihrer letzten immersiven Produktion „Die Maschine steht still“ verarbeitet Marion Rothhaar ein persönliches Thema, das die Regisseurin bereits vor einigen Jahren im TNL aufgegriffen hatte: Wie bei „The Other: Me“ verhandelt „Körper am Ende der Welt“ Rothhaars Vergangenheit als junge Spitzensportlerin und die Art, wie im System Leistungssport Körper und Psyche ausgenutzt werden.

Im Gegensatz zu „The Other: Me“ wird das autobiografische Narrativ hier etwas aus dem zeitgeschichtlichen Rahmen gelöst, um der Erzählung eine Gegenwärtigkeit beziehungsweise eine Universalität zu verleihen: Wo bei der französischsprachigen TNL-Produktion aus dem Jahr 2018 der Bezug auf den polithistorischen Kontext – die Regisseurin war 1988, also ein Jahr vor der Wende, Olympiateilnehmerin für die BRD – wesentlich war, zeigt „Körper am Ende der Welt“, dass der psychische Druck bei Leistungssportlerinnen und das zermürbende Ausloten körperlicher Grenzen trotz einer anderen geopolitischen Lage auch heute noch ein Problem sind.

Durch die sogenannten Magglingen-Protokolle wurde in den Medien auf Kaderathletinnen aufmerksam gemacht, die von „Einschüchterungen, Erniedrigungen und Misshandlungen am Nationalen Leistungszentrum des Schweizerischen Turnverbandes“ berichteten – es waren diese Protokolle, die Rothhaar dazu verleiteten, das Kapitel ihrer Lebensgeschichte noch mal aufzugreifen und ihre eigenen Erfahrungen zusammen mit Koautorin Regina Dürig in einer fiktionalisierten Textform erneut auf die Bühne zu bringen. Erst gen Ende rücken Rothhaars biografischen Erinnerungen ins Zentrum und erzählen so eine Kontinuität der Ausbeutung, ein epochenübergreifendes Narrativ der Erniedrigung.

Was in der Turnhalle passiert …

Was braucht man, um eine Spitzensportgymnastin zu werden? Eigentlich gar nicht so viel, meint Marion Rothhaar zu Beginn des Stücks lakonisch, bevor sie mit einer schwindelerregend langen Liste loslegt: Beweglichkeit, Talent, Willenskraft, Ehrgeiz, Verzicht, Beweglichkeit, Stressresistenz, Musikalität und natürlich Muskelkraft – aber womöglich, ohne dass man es einem zu sehr ansieht, denn die Frauen- oder viel eher Mädchenkörper sollen in der Sportschau doch schön filigran aussehen.

Je früher das Training beginnt, desto dehnbarer sind Körper und Geist – die willenlose Konditionierung zur Willenskraft soll früh beginnen, nicht umsonst mimt Schauspielerin Rahel Jankowski irgendwann den (ausgehungerten) Pawlowhund, dessen Alltagsrhythmus von einer nervtötenden Trillerpfeife bestimmt wird: Kondition erlangt man durch Konditionierung.

Die Russen und die Chinesen haben das am besten verstanden, erklärt Rothhaar, dort fängt die sportlich-ideologische Gehirnwäsche bereits mit drei Jahren an, in Deutschland beginnt man erst mit sechs. Anfangs gibt es vier Stunden Training wöchentlich, nur wenig später sind’s dann 40. Die Schule sollte man dennoch nicht vernachlässigen, um mit 20, wenn die Weltspitze aus der Ferne rückt, nicht ohne Plan B fürs Leben dazustehen.

Ans nicht nur sprichwörtliche, idyllische Ende der Welt – ein Olympiastützpunkt in den Bergen – wird die Erzählung verlagert, die Schauspielerin Rahel Jankowski lebt dort bei einer Gastfamilie, Zeit für Wandern, Sightseeing oder gar eine menschliche Bindung gibt’s aber eh nicht, da der Tagesablauf zwischen Schule, Training und zweckmäßiger Ernährung keine Sekunde Freizeit lässt – ohnehin ist „sie nicht hier, um Tochter zu sein.“

… bleibt in der Turnhalle

Marion Rothhaar verkörpert dabei die gnadenlose, unerbittliche Trainerin, während Schauspielerin Rahel Jankowski die Rolle der jungen Sportlerin übernimmt – ein intelligenter Rollentausch, da das vermeintliche Wechselspiel zwischen Opfer und Täter zeigt, wie austauschbar der Mensch, wie allgegenwärtig die Zermalmung des Individuums im System Spitzensport ist: Die Trainer, die eine „stachelige“ Sprache sprechen, bezeichnet Rothhaar zwar als „komisch“, sie weiß aber sehr wohl, dass die Sportlerinnen deren „Werkzeug“ sind – und sie im Falle des Scheiterns die ersten sind, die, wie beim Fußball, den Job verlieren.

Ähnlich zwiespältig ist auch der Bezug zum damals praktizierten Sport – kurze Intermezzi einer Sportlerin zeigen Momente bezaubernder Eleganz inmitten einer beeindruckenden Choreografie, weiß man jedoch, welchen Preis die Sportlerinnen zahlen, werden selbst diese Momente in ein kritisches Licht gerückt.

Das Bühnenbild ist dabei minimalistisch und karg wie eine Turnhalle – Rothhaar stellt ganz vorne zehn Pokale auf (es handelt sich nicht um die eigenen, einer hat sogar ein Hund gewonnen, erzählt Rothhaar lachend), im Zentrum steht die berüchtigte Waage, auf die Jankowski immer wieder steigt, die Schaummatte wirkt erst wie ein Schachbrett, über das die Trainerin ihre Sportlerin wie ein Pferd hüpfen lässt, dann wie ein Boxring, in der die Sportlerin mit sich selbst ringt.

Regisseurin Elke Hartmann wechselt dabei ständig zwischen showing und telling – während eine Stimme aus dem Off in neutralem Ton von gesundheitlichen Problemen wie durch Magersucht verursachtes Organversagen oder gar Herzinfarkte berichtet, sehen wir in einer beklemmenden Szene, wie Jankowski sich, in der Hoffnung, ein paar Kilo zu verlieren, unter dem strengen, mitleidlosen Blick der Trainerin abrackert – das hier ist beeindruckend gespielte Körperqual, fast wie in einem Aronofsky-Film.

In einer anderen Szene wird ein Band erst zur Leuchtkette, dann zur Peitsche und schließlich zur Zwangsjacke – hier wird auf eine ästhetisch anspruchsvolle und einfallsreiche Art die Dichotomie zwischen Schönheit und Leiden illustriert, dazu hört man später Motivierungssprüche wie „Der Wille ist ein Muskel, der trainiert werden will“.

Eine Medaille fürs System

„Körper am Ende der Welt“ zeigt jedoch nicht nur die psychischen und körperlichen Konsequenzen, sondern auch den wirtschaftlich-politischen Kontext: Sport soll den zwischenmenschlichen Zusammenhalt und körperliche Aktivität fördern, ergo die Gesundheit des sozialen Leviathans garantieren. Dieses scheinheilige politische Narrativ soll aber bloß verdecken, dass eine „Medaille für den Sport“ auch eine „Medaille fürs System“ ist – und solch politische Rivalitäten sich einen feuchten Dreck um das Wohlergehen der Einzelnen scheren.

Gen Ende überlässt Rahel Jankowski Rothhaar die Bühne. Erst hört man die Künstlerin aus dem Off, die Erinnerungsfetzen von ehrgeizigen Kindheitsträumen und Brieffreundinnen evoziert, bevor sie eine utopische Welt imaginiert, in der es keine Bestsellerlisten, keine Preisverleihungen, keine Leistungsvergleiche gibt und in der das Komparativ abgeschafft wurde. Anschließend wird die Eurosport-Übertragung ihres Olympiaauftritts eingeblendet – oben sieht man das junge Mädchen, hochkonzentriert und bedächtig, unten die erwachsene Frau, die ihr junges Alter Ego ohne Druck und fast schelmisch begleitet – ein inszenatorischer Höhepunkt eines ergreifendes Stücks.

Schade deswegen, dass die Schlusssequenz zu plakativ und didaktisch ist – hier wird offensichtlich, dass sich die Produktion auch an ein jüngeres Schulpublikum richtet, trotzdem hätte das Ganze es auch ohne die abschließenden „Lass dir nichts sagen, du taugst trotz/gerade wegen deiner Schwächen etwas“-Motivierungssprüche getan, die besonders sauer aufstoßen, weil eine Aufforderung zur Selbstbestimmung immer noch eine Aufforderung ist: Auch gut gemeinte Konditionierung bleibt Konditionierung.

Info

Die Koproduktion von Maskénada, Theater praesent Innsbruck, Mierscher Kulturhaus und Abtei Neumünster läuft heute Abend um 20.00 Uhr im Mierscher Kulturhaus.