Wer erinnert sich noch an die schottischen Indierocker The Beta Band, die zwischen 1996 und 2004 aktiv waren? Diese wurde von Steve Mason, einem unscheinbareren Musiker mit markanter Stimme, und Gordon Anderson gegründet. Nach deren Auflösung war Mason solo unter dem Namen King Biscuit Time aktiv und machte mit Jimmy Edgar als Black Affair elektronische Musik. Seit fast 15 Jahren musiziert er unter seinem bürgerlichen Namen und vermischt heute auf galante Art Indierock mit Elektronischem. „Brothers & Sisters“ (8 Punkte) ist bereits das fünfte Album unter dem Banner Steve Mason. Eingedenk dessen, dass die Songs in einer düsteren, von Angst und Ungewissheit geprägten Zeit entstanden sind, in der eine Hiobsbotschaft die nächste jagte, ist die Stimmung, die sie ausstrahlen, erstaunlich positiv bis fröhlich. Lebensbejahend wäre das bestmögliche Attribut.
Mit Unterstützung etwa durch den pakistanischen Sänger Javed Bashir, dem britischen Gospelsänger Jayando Cole und Kaviraj Singh an der Santur ist „Brothers & Sisters“ eine die Kulturen und Genres einende Platte geworden, die Eindruck hinterlässt. Für Mason ist sie „ein großes ‚Fuck you’ an den Brexit und ein riesiges ‚Fuck you’ an jeden, der Angst vor der Einwanderung hat, denn es gibt nichts, was die Einwanderung diesem Land gebracht hat, das nicht zu begrüßen wäre“. Das sind deutliche Worte eines Mannes, der immer wieder musikalisch überrascht und dabei authentisch bleibt. Man muss den Songs nur Geduld entgegenbringen.
Auch „Land Of Sleeper“ (9 Punkte) ist kein Album, das auf Anhieb zündet. Zwar sind Pigs Pigs Pigs Pigs Pigs Pigs Pigs keine Unbekannten mehr, aber ihr viertes Album braucht Zeit. Doch je öfter es läuft, desto tiefer bohren sich die Songs der Band aus Newcastle ins Gedächtnis. Da wäre der Song „Big Rig“, in dem sie Einflüsse von Black Sabbath mit dem lebendigen Stoner Rock von Fu Manchu kreuzen, oder das dynamisch-spacige „Mr. Medicine“. Düsterer und bedrohlicher ist „The Weatherman“, ein hypnotischer Song, der gut und gerne auch auf einem Album der Sludge/Post-Metaller Neurosis zu finden sein könnte. Ganz langsam baut sich die Spannung auf, ehe nach etwa der Hälfte eine schwarze Energie an die Oberfläche dringt und ein Sludge/Doom-Monster freigelassen wird. Insbesondere hier ist die einzigartige Chemie unter den Musikern nicht nur hörbar, sondern auch spürbar. Gitarrist Adam Ian Sykes sagte denn auch über den Entstehungsprozess des Albums: „Diese Sessions waren für mich eine fast religiöse Erfahrung. Es fühlte sich an, als ob wir im Einklang arbeiteten, verbunden mit einem unwissenden Schwarmgeist.“
Man sollte meinen, Yo La Tengo könnten einen nach fast 40 Jahren nicht mehr überraschen. Weit gefehlt. Für „This Stupid World“ (9 Punkte) haben sie erstmals alle Songs selbst produziert und abgemischt. Hinzu kam, dass Ira Kaplan (Gesang, Gitarre), James McNew (Bass) und Georgia Hubley (Schlagzeug, Gesang) jeden Song gleichzeitig im Studio einspielten. So kam dieser Livesound zustande, der vorgibt, der Hörer wäre in der Sekunde der Aufnahme mit ihnen im Studio. Der Auftakt „Sinatra Drive Breakdown“ ist schon ein Meisterwerk: ein treibender, mäandernder Jam mit vielen Wiederholungen, die einen in Kombination mit Kaplans sanfter Stimme fast in Trance versetzen. „Fallout“ könnte auch aus der Feder einer sanftmütigen Version von Sonic Youth stammen. In der melancholischen Country-Folk-Ballade „Aselestine“ und dem sphärisch-elektronischen „Miles Away“ übernimmt Schlagzeugerin Hubley den Gesang, womit die beiden Pole des Albums markiert wären: Das Spektrum reicht von behutsamem Noiserock auf der einen bis hin zu melancholischen Klangexperimenten auf der anderen Seite. Großartig.
Gruff Rhys, der Frontmann der walisischen Band Super Furry Animals, hat gerade über Rough Trade Records den Soundtrack zum Film „The Almond And The Seahorse“ (8 Punkte) veröffentlicht. Die 22 Songs des Doppelalbums wurden allesamt von ihm komponiert und zwischen 2021 und 2022 mit einer Reihe von Musikern (u.a. Mitglieder des National Orchestra Of Wales) in Studios verschiedener Freunde, zu Hause und gar in einer Pfadfinderhalle aufgenommen.
Zu dem Filmplot über die Frauen Sarah (Rebel Wilson) und Toni (Charlotte Gainsbourg), deren Ehemänner an Gedächtnisverlust leiden, schrieb Rhys Musik, die typisch nach dem experimentierfreudigen Waliser klingt (vom 80er-Pop in „Layer Upon Layer“ bis hin zum Freak-Folk in „Sunshine And Laughter Ever After“) und dann wiederum cineastischen Charakter hat – wie in den kurzen Zwischenstücken „Joe’s Theme“, „Low Cello“ und „Forest Waltz“ oder dem faszinierenden, einlullenden Instrumental „Library To Kiss“. Er selbst spricht von einem „abwechslungsreichen Sound-Quilt“. Er orientierte sich klanglich an den Schauplätzen des Films: Liverpool und Wirral. Er nutzte beispielsweise einen Mellotron-Synthesizer, wie ihn John Lennon in dem Beatles-Stück „Strawberry Fields Forever“ eingesetzt hatte, um einen Bezug zu Liverpool herzustellen. „The Almond And The Seahorse“ kam bei den Filmkritikern nicht sonderlich gut weg und erhielt viele durchschnittliche Bewertungen. An der Musik kann es sicherlich nicht gelegen haben.
(Kai Florian Becker)
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