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Nationaler Aktionsplan„Wenn das so weitergeht, kämpfen wir in 50 Jahren noch für mehr Inklusion“

Nationaler Aktionsplan / „Wenn das so weitergeht, kämpfen wir in 50 Jahren noch für mehr Inklusion“
So selbstständig wie möglich das Leben meistern: Das wünschen sich viele Menschen mit einer Behinderung  Foto: Editpress/Tania Feller

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Luxemburg soll inklusiver werden. Das ist das Ziel des Aktionsplans zur Umsetzung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2019-2024. Doch zur Halbzeit fällt die Bewertung über das bisher Erreichte gemischt aus.

Menschen mit Behinderungen sollen in Luxemburg ein gleichberechtigtes Leben führen können. Doch das Großherzogtum ist längst noch nicht so inklusiv, wie es sein sollte. 2007 hat Luxemburg die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet und 2011 offiziell ratifiziert. Seitdem wird an der Umsetzung der verschiedenen Rechte gearbeitet. Im März 2012 wurde ein erster fünfjähriger Aktionsplan vorgestellt, dessen Umsetzung allerdings einiges an Kritik von dem zuständigen UN-Gremium wegstecken musste. Der Schattenbericht der Betroffenen-Organisationen war ebenfalls vernichtend.

Der Aktionsplan 2.0, ausgearbeitet unter der Leitung von Corinne Cohens Familienministerium, sollte besser werden und wurde 2019 vorgelegt. Darüber hinaus wurde beschlossen, zur Halbzeit eine einstweilige Bewertung durch eine externe Firma durchführen zu lassen. 2022 war es dann so weit: Nach monatelangen Untersuchungen stellte die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG am 21. Dezember ihren Bericht vor. Und wieder fällt auf, dass sich einiges an Verspätung angesammelt hat.

Viele Verzögerungen

Der ambitionierte Plan umfasst 97 Maßnahmen, die in acht verschiedenen Bereichen bis 2024 durchgesetzt werden sollen. Bis zum 30. Juni 2022 sollte dies bei 57 der Maßnahmen der Fall sein. Doch aus dem KPMG-Bericht geht hervor, dass gerade mal 47 Prozent des Halbzeitziels erreicht wurden: 27 Aktionen gelten offiziell als „abgeschlossen“, 30 als „nicht-abgeschlossen“. Von den 30 noch fehlenden Aktionen seien aber zehn dabei, durchgeführt zu werden.

„Allgemein heißt das, dass wir gut unterwegs sind, aber dass es sicherlich Verbesserungspunkte gibt“, erklärt Myriam Zimmer, eine der Verantwortlichen des Familienministeriums, im Gespräch mit dem Tageblatt. „Wir haben die Latte sehr hoch gelegt. Das motiviert, aber erschwert es auch, das gesetzte Ziel zu erreichen. Aber wenn wir zusammenarbeiten und unsere Expertisen austauschen, dann können wir mehr bewirken. Da greift das Motto unseres Aktionsplans: Inklusion betrifft uns alle.“

Sensibilisierung ist schön und gut, doch uns fehlen die konkreten Aktionen

Martine Kirsch, Präsidentin von ZeFI

Martine Kirsch, Präsidentin der Vereinigung „Zesumme fir Inklusioun“ (ZeFI), sieht das deutlich nüchterner: „Ich bin enttäuscht von dem, was bisher dabei herausgekommen ist.“ Bei der Erarbeitung des Arbeitsplans habe man die verschiedenen Organisationen, die sich für mehr Inklusion einsetzen, zwar in die Arbeitsgruppen eingebunden, doch was am Ende an Maßnahmen festgehalten wurde, habe längst nicht den Erwartungen entsprochen. Und jetzt wurden zur Halbzeit noch nicht einmal die Hälfte der Maßnahmen umgesetzt.

Bei der Vorstellung des PMG-Berichtes hätten die anwesenden Ministerien natürlich auf die zahlreichen Krisen der vergangenen Jahre verwiesen. „Das kann ich nur bedingt verstehen. Viele Maßnahmen hätten trotzdem in Angriff genommen werden können. Doch die einzigen richtigen Aktionen scheint es bei der Sensibilisierung gegeben zu haben.“ Das würde allerdings noch nicht ausreichen. „Sensibilisierung ist schön und gut, doch uns fehlen die konkreten Aktionen!“

Auf direkte Fragen, wieso nicht so viele Maßnahmen wie geplant abgeschlossen wurden, reagiert man beim Ministerium ausweichend. „Ich erlebe es als sehr motivierend, wenn ich sehe, was bisher alles schon erarbeitet wurde und auf was wir aufbauen können. Wir bewegen uns vielleicht langsam – für verschiedene sogar zu langsam –, aber es geht voran auf dem Weg, den uns die UN-Behindertenrechtskonvention vorgibt“, sagt Zimmer.

Justiz und „Santé“ hinken hinterher

Vergleicht man die acht Themenfelder miteinander, fällt auf, dass „Anerkennung der Rechtspersönlichkeit unter den Bedingungen der Gleichberechtigung“ (0 Prozent) und „Gesundheit“ (10 Prozent) arg hinterher hängen.

Federführend für die Maßnahmen im Justizbereich ist logischerweise das Justizministerium. Hier geht es unter anderem um die Reform des Vormundschaftsgesetzes. „Das Gesetz datiert aus dem Jahr 1982. Es ist veraltet und verstößt gegen die UN-Behindertenrechtskonvention. Die größte Schwierigkeit liegt einerseits in der Auslegung des Gesetzes – dieses sieht nur schwarz oder weiß vor – und andererseits trägt das Gesetz dem Recht auf Selbstbestimmung keine Rechnung“, erklärte der damalige Info-Handicap-Direktor Olivier Grüneisen 2019 in einem Tageblatt-Interview. Eine Reform wird von den Betroffenen-Organisationen schon seit Jahrzehnten verlangt, doch bisher ist nichts passiert.

„Man bekommt immer die gleichen Antworten: Wir arbeiten daran, es ist Bewegung in der Sache. Es scheint unrealistisch, dass das vor Ende des Aktionsplans fertig wird“, kritisiert Martine Kirsch. Das Familienministerium verweist darauf, dass die Reform in zwei Schritten erfolgen wird. Der erste Schritt, ein „avant-project de loi“ mit dem Namen „mandat de protection future“, sei dabei, ausgearbeitet zu werden, und solle „demnächst“ vorgelegt werden. Für weitere Nachfragen wurde das Tageblatt ans Justizministerium verwiesen.

Doch für die Reform in zwei Schritten wird die Zeit knapp, immerhin müssten die Gesetze ja noch durch den legislativen Prozess. 2023 ist in Luxemburg Superwahljahr und größere Gesetzesvorhaben wie beispielsweise die Reform des Vormundschaftsgesetzes könnten dadurch in Verzug geraten. Auf den Einwand, dass Ministerien aber durch das politische Chaos, das Wahlen immer mit sich bringen, mehrere Monate quasi handlungsunfähig sind, sagt Zimmer: „Die Wahlen betreffen ja nicht unseren Aktionsplan direkt, wir sind also zuversichtlich, dass wir so viel wie möglich bis 2024 umgesetzt bekommen.“

Die Kampagne „Wat ass normal?“ ist eine der Sensibilisierungs-Kampagnen, die im Aktionsplan vorgesehen waren
Die Kampagne „Wat ass normal?“ ist eine der Sensibilisierungs-Kampagnen, die im Aktionsplan vorgesehen waren Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

Im „Santé“-Bereich ist bisher nur eine Aktion von insgesamt neun, die bis zum 30. Juni 2022 fällig waren, durchgeführt worden. Wie vorgesehen wurde ein Verzeichnis von Anbietern von spezialisierten Gesundheitsdienste und zugänglichen Dienstleistungen geschaffen, das über die „Santé“-Seite einzusehen ist. Acht weitere Maßnahmen sind laut Bericht dabei, umgesetzt zu werden. Martine Kirsch hat für Verspätungen in diesem Bereich noch das meiste Verständnis: „Da kann man noch sagen: Da war coronabedingt Chaos im Haus.“

Doch Menschen mit Behinderung scheinen bei der Gesundheitspolitik immer noch fast vergessen zu werden. Ein Umstand, der auch aus dem KPMG-Bericht hervorgeht: „Obwohl es Beispiele für ‚gute Praktiken’ wie die Adapto-App gibt und der MS eine mobile Anwendung entwickelt hat, die den Zugang zu den am häufigsten aufgerufenen Informationen auf dem Portal www.sante.lu erleichtern soll, bietet die Anwendung keine lösungsorientierten Dienste an, die auf die Verbesserung und Erleichterung von Gesundheitsdienstleistungen abzielen. Darüber hinaus befand sich unter den Bewertern kein Vertreter von Behindertenverbänden und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen wurden nicht in der Leistungsbeschreibung berücksichtigt.“ 

Wenn wir in diesem Tempo weitermachen, dann kämpfen wir in 50 Jahren noch für mehr Inklusion

Martine Kirsch, Präsidentin von ZeFI

Vor allem der Bildungsbereich bereitet Martine Kirsch Bauchschmerzen. Immerhin saß sie als Vertreterin von ZeFI in der Arbeitsgruppe für diese Thematik. Sie kritisiert, dass im Aktionsplan festgehaltenen Maßnahmen vor allem Sensibilisierungskampagnen sind oder dass sie die non-formale Bildung, zum Beispiel Musik oder Sport, betreffen. „Während wir dort auch wichtige Fortschritte machen, treten wir in Sachen Schule aber auf der Stelle.“ Beispielsweise wurde von Bildungsminister Claude Meisch (DP) mehrfach versprochen, dass ein Master im Bereich „Inklusion“ in Luxemburg entstehen sollte. Der würde aber definitiv nicht kommen. „Wenn wir in diesem Tempo weitermachen, dann kämpfen wir in 50 Jahren noch für mehr Inklusion.“ 

Aber auch das Familienministerium hat noch einiges an Hausaufgaben vor sich. Unter anderem das „Budget d’assisstance personnalisée“ ist eine Forderung, die schon lange auf dem Tisch liegt und laut dem Aktionsplan bis 2024 (unter dem Thema „Eigenständige Lebensführung und Einbeziehung in die Gesellschaft“) auch ausgearbeitet werden soll. Zimmer vom Familienministerium beteuert, dass man an diesem „hochkomplexen“ Dossier arbeite. Ein erster Schritt sei eine Liser-Studie, die die Bedürfnisse von Menschen mit einer Behinderung untersuchen soll. Sie soll im Januar vorgestellt werden. Bleibt abzuwarten, ob das vorgesehene Pilotprojekt bis 2024 starten kann. Für Kirsch würde damit „ein ganz großer Wunsch der Organisationen“ in Erfüllung gehen. 

Zum gleichen Themenbereich gehört die Maßnahme, eine allgemein gültige Definition von „Behinderung“ festzulegen. Zimmer sagt gegenüber dem Tageblatt, man habe sich darauf geeinigt, die in der UN-Konvention festgehaltene Definition für Luxemburg zu übernehmen. Diese sei auch in das neue Zugänglichkeitsgesetz – das ab dem 1. Januar 2023 in Kraft tritt – eingeflossen. Auf die Frage, wo und wann die Definition denn nun offiziell festgehalten werde, konnte die Verantwortliche des Familienministeriums keine Antwort geben. 

Die Verbesserungsvorschläge

Insgesamt zeigt sich Martine Kirsch zufrieden mit der Arbeit von KPMG. „Aus dem Bericht liest sich ja heraus, dass bei den Ministerien die rechte Hand nicht weiß, was die linke macht.“ Große Hoffnungen setze sie nun in den Vorschlag der Prüfer, eine „Beobachtungsgruppe“ einzusetzen, in denen auch Mitglieder des Obersten Rates für Menschen mit Behinderungen (CSPH), des Zentrums für Gleichbehandlung (CET) und der Beratenden Kommission für Menschenrechte (CCHR) vertreten sind. „Wenn man nicht auf die Betroffenen selbst hört, dann kommen am Ende nur halbfertige oder völlig unsinnige Projekte dabei heraus.“

Wir haben keine Glaskugel, aber wir streben natürlich die 100 Prozent an

Myriam Zimmer, Familienministerium

Laut Myriam Zimmer nimmt man sich beim Familienministerium die Kritik von KPMG zu Herzen. „Wir müssen uns besser aufstellen, um die Koordination effizienter zu gestalten. Wir müssen das Management verbessern, um dem Potenzial des Aktionsplans gerecht zu werden. Die KPIs müssen besser definiert werden und wir wollen uns ein Dashboard geben, dass wir die Aktionen besser überwachen können. Da suchen wir nach dem passenden Werkzeug.“ Und vor allem wolle man nicht nachlassen: „Wir haben keine Glaskugel, aber wir streben natürlich die 100 Prozent an.“ 

Beide Frauen gehen allerdings im Gespräch mit dem Tageblatt davon aus, dass es unweigerlich einen dritten Aktionsplan geben wird. „Es gibt noch genug Punkte der Konvention, die umzusetzen bleiben, und sicherlich werden auch dort die Empfehlungen von KPMG und die Wünsche der vielen Organisationen einfließen“, heißt es in einem optimistischen Ton von Zimmer. Man freue sich auf die Herausforderung.

„Wir haben 30 Jahre zu spät mit der Inklusion begonnen und haben viel zu viel aufzuholen. An einem dritten Aktionsplan führt einfach kein Weg vorbei“, sagt Kirsch deutlich nüchterner. Es bleibe nur zu hoffen, dass die Ministerien dieses Mal noch besser auf die Betroffenen hören –und sich tatsächlich an die vorgegebenen Zeitrahmen halten werden.