„Früher, sehr viel früher, im Goldenen Zeitalter, das niemals wiederkehrt, als die Ewigkeit noch nicht an die Zeit stieß, war das Licht. War das Wort. War das Herz, das aus dem Wort entstand. War die Erde. Die Form. All das aber genügte nicht, um die Welt der Menschen erblühen zu lassen. Die Götter erlernten das Zerschlagen. Das erste Verbrechen wurde begangen, ein Bruder erschlug seinen Bruder.“ So beginnen Asli Erdogans Aufzeichnungen, biblisch, menschlich und binden in diesen ersten Zeilen die Grundthemen des Buches – das Existenzielle, die Religion, der Untergang, der im Anfang steckt – zu einer Sprache, die in ihrer Schönheit den Verfall nicht verdeckt, sondern von ihm zehrt.
Man fragt sich als Lesender sofort, ob dieses Buch, wie der Titel es vermuten lassen könnte, aus einem Text besteht, der der verlorenen Stadt mit auf ihre letzte Reise gegeben wird? So wie die Ägypter – deren Totenbuch eine Rolle in Erdogans Band spielt – dies taten. Jedenfalls beschwören etliche Passagen einen mythischen Urgrund, aus dem alles zu kommen scheint und in den alles zurückkehrt. Die persönlichen Verankerungen, die Zeilen, in denen von einer Mutter erzählt wird, in denen das Ich eine Rolle spielt, sind so gestaltet, dass sie die Einzelperson überschreiten und man nicht weiß, wer dieses sprechende Ich ist. Auch bleibt im Verborgenen, ob es sich bei der verlorenen Stadt um Istanbul handelt oder um die Stadt an sich. Denn Asli Erdogan will viel mehr mit diesem Text, als nur Momente der eigenen Biografie festhalten. Und das gelingt ihr von der ersten Zeile an.
Insofern Lyrik auch die Tendenz zum Philosophieren hat, den Weg der Erkenntnis geht, aber nicht als finalistische Methode, die etwas beweisen möchte, sondern als kreativer Bildprozess, der erahnt, was nicht unmittelbar zu wissen ist, besteht dieses Requiem aus Schöpfungsgesängen. Nicht nur, weil das Erschaffen thematisiert wird, sondern weil die kurzen Kapitel abzuschöpfen versuchen, was die Suche nach Erkenntnis hergibt. Unser Leben ist nicht mehr als ein Komma, trotzdem können wir uns daran machen, den existenziellen Text, in dem dieses Interpunktionszeichen steht, aufzuschlüsseln.
„Requiem für eine verlorene Stadt“ ist ein faszinierender Prosa-Band, der lyrischer nicht sein könnte, voller atemraubender Bilder und Metaphern, voller Wortfügungen, die das Denken aus seiner Verankerung reißen, voller Ästhetik, wachsend aus dem Untergang. Es ist keine Verherrlichung des Letzteren, sondern die Einbeziehung desselben im Schaffen von Schönheit. Auch der Niedergang, der Verlust, ist das Leben wert.
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