Tageblatt: War die E.P. „Nowhere Generation II“ von Anfang an als Ergänzung zum Album konzipiert – oder ist das Material dazu erst später entstanden?
Tim McIlrath: Wir haben alle 16 Songs gleichzeitig aufgenommen. Nachdem wir sie fertiggestellt hatten, begann die Pandemie und uns wurde allmählich klar, dass bei der Veröffentlichung dieser Platte alles anders sein würde: Wir wussten, dass sich sowohl die Platte als auch die Tournee verzögern würden. Und wir wussten auch, dass 16 Tracks eine Menge Songs sind, um sie auf ein einzelnes Album zu packen. Also dachten wir, wir teilen das Ganze auf – denn uns war klar, dass die Leute sich intensiver mit elf als mit 16 Songs auseinandersetzen würden. So hofften wir zu vermeiden, dass Lieder in der Masse untergehen. Gleichzeitig wollten wir etwas in petto haben, wenn wir endlich in Europa touren können. Wegen der Pandemie dauerte es nämlich ein Jahr, bis wir dies tun konnten – und wir wollten nicht mit leeren Händen dort aufkreuzen, zumal unsere europäischen Fans ein wichtiger Bestandteil der Rise-Against-Familie sind.
Der erste Song der E.P. beginnt mit dem enthusiastischen Gebrüll einer Menge, die einem amerikanischen Baseball-Pitcher eine Standing Ovation gab, nachdem dieser rassistische und homophobe Äußerungen getwittert hatte …
Der Auslöser für die Idee zu diesem Song oder zu diesem Sample war weniger, was dieser Sportler gesagt hat, auch wenn er einige schrecklich rassistische Dinge von sich gab, als vielmehr die Tatsache, dass dieser Typ einen tosenden Beifall bekam. Sein individuelles Verhalten ist eine Sache, und es lässt sich nicht leugnen, wie daneben sowas ist, aber das Verhalten der Gruppe war noch viel widerlicher – für mich war dies Amerika in seiner absolut schlimmsten Form. Das war der Sound, mit dem ich die E.P. beginnen wollte: Um daran zu erinnern, dass, wenn dies der Sound ist, der entsteht, nachdem jemand so etwas postet, wir noch einen sehr langen und steinigen Weg vor uns haben.
Du hast darüber gesprochen, die 16 Tracks aufzuteilen, weil es zu viel Musik für ein einziges Album gab. Wie siehst du das Albumformat in dieser „Nowhere Generation“, deren Konzentrationsspanne, betrachtet man zumindest die Musikhörgewohnheiten, immer geringer wird?
Die Art, Platten zu hören, verändert sich jedes Jahr. Ich habe das Gefühl, dass wir vier ziemlich stur sind, also werden wir wahrscheinlich einfach weiter Alben machen – egal, wie viele Menschen meinen, dass dies keine gute Idee ist (lacht). Wir empfinden es als wichtig, dass die Band Rise Against Alben veröffentlicht, denn es ist dieses Format, auf dem wir uns am besten entfalten können. Wir werden folglich wohl stur weiter Alben schreiben und veröffentlichen, auch wenn uns Daten und Statistiken davon abraten sollten.
Ihr seid endlich wieder auf Tournee in Europa. Wie hat sich die Pandemie auf das Bandleben ausgewirkt: War es vom kreativen Standpunkt aus gesehen eine inspirierende oder eher eine beängstigende Zeit?
Ein Großteil des Albums wurde bereits vor Ausbruch der Pandemie fertiggestellt. Während der Pandemie haben wir dann viel Zeit in die Präsentation und das Artwork stecken können und Dinge wie das anschließende Touren geplant.
Ob es eine kreative Zeit für uns war? Ich glaube, ich habe eher den verzweifelten Teil der Pandemie zu spüren bekommen. Wir hatten gerade erst ein Album aufgenommen, da gab es so viel kreativen Output, dass wir uns danach nicht besonders inspiriert fühlten. Die Pandemie war perfekt auf den emotionalen Absturz abgestimmt, den man erlebt, wenn man ein Album fertiggestellt hat.
Aber es machte uns definitiv eifriger, wieder rauszugehen und diese Songs zum Leben zu erwecken, wieder auf Tour zu gehen und Shows zu spielen und Orte wie Luxemburg zu sehen. Ich hatte vergessen, wie sehr mein Leben vom Reisen abhängt, mein Freundeskreis über verschiedene Städte auf der ganzen Welt verteilt ist – und normalerweise sehe ich sie jedes Jahr. Der Wegfall all dieser Reisen bedeutete für mich eine große Veränderung.
Es gab Bands, die mehr als zwei Jahre nach der Veröffentlichung ihres Albums auf die dazugehörige Tournee warten mussten …
Als Band war man gezwungen, eine Entscheidung zu treffen: Veröffentlicht man das fertige Album, weil die Leute gezwungen sind, zu Hause zu bleiben und so vielleicht mehr Zeit haben, es sich anzuhören – oder wartet man ab, verschiebt man es, bis man es auf Tournee schicken kann? Jeder hat eine andere Entscheidung getroffen, und einige Alben sind wohl einfach im Prozess untergegangen – was sehr bedauerlich ist.
Die Welt da draußen sieht jetzt aus wie ein Lied, das wir vor fünf Jahren geschrieben haben.
Wie geht ihr als politische Punkband mit dem allgemeinen politischen Klima um – ist das immer noch inspirierend oder beginnt die Kreativität, bei der ganzen Überhandnahme des Apokalyptischen, abzunutzen?
(Lacht.) Normalerweise malen wir diese fantastischen Bilder von der Welt. Heutzutage sehen diese Bilder immer realistischer aus, und wir fragen uns: Worüber singen wir jetzt? Die Welt da draußen sieht jetzt aus wie ein Lied, das wir vor fünf Jahren geschrieben haben. Wir sind von Natur aus dystopisch – wir sprechen darüber, wie die Welt aussehen könnte, wenn wir den gleichen Weg weitergehen, den wir im Moment eingeschlagen haben. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die Welt unseren dystopischen Extrapolationen ähnelt. Unsere Aufgabe ist es also, den Blick nach vorne zu richten, immer wieder die Alarmglocken zu läuten und davor zu warnen, dass, wenn wir weiterhin unachtsam sind, sich die Welt in eine noch schlimmere Version ihrer selbst verwandeln wird. Gleichzeitig wollen wir stets prüfen, wie wir in die zeitgenössischen politischen Debatten passen, wie und wo wir hilfreich sein können, anstatt uns zu sehr zu wiederholen – auch wenn einige Machtstrukturen und Themen einfach zeitlos sind.
Das macht einen Song wie „Hero of War“ leider aktualitätsbezogener denn je. Auch wenn es so scheint, als hätte sich der Fokus seit dem Ende von Trumps Amtszeit etwas von den USA weg verlagert – sodass Europa nun mit dem Krieg in der Ukraine und einer rechtsextremen Regierung in Italien im Zentrum der politischen Sorgen steht.
Ich sehe Trump als Symptom einer größeren Krankheit – der Krankheit des Autoritarismus, die sich auf der ganzen Welt ausbreitet. Nach Trumps Amtsantritt blickten alle auf Amerika und waren erleichtert, weil sie wohl dachten, egal wie schlecht ihre nationale Politik wäre, ganz so schlimm wie bei uns wäre es dann doch nicht. Aber jetzt sehen wir, dass viele Länder ihre eigene Version von Trump haben, sodass ich ihn als ein Warnzeichen betrachte, als eine Erkenntnis, dass die Probleme eines Landes sehr schnell auf andere Länder übergreifen können – und das ist etwas, wovor wir wachsam sein müssen. Und wenn Trump weg ist, heißt das nicht, dass er nicht wiederkommen kann – auch in dieser Hinsicht müssen wir wachsam bleiben, vor allem, wenn die Wahlen näher rücken
Ihr seid von einer Underdog-Punkband zu einer der erfolgreichsten Bands eures Genres aufgestiegen – wie bleibt man relevant, wie bleibt man sich treu, bleibt man über all die Erfolgsjahre glaubwürdig?
Es gibt keinen wirklichen Plan, wir machen einfach einen Schritt nach dem anderen. Es ist hilfreich, dass wir bandintern, aber auch was unsere Verbindung zu unseren Fans anbelangt, so ziemlich auf einer Wellenlänge sind. Wir machen unser Ding, das Publikum scheint uns immer noch so zu akzeptieren, wie wir sind und unterstützt die Entscheidungen, die wir treffen. Wenn man den Punk- und Hardcore-Hintergrund hat, den wir haben, ist man, glaube ich, besser auf Dinge wie den Erfolg, den Rise Against als Band gefunden hat, vorbereitet. Denn trotz unseres Erfolges sehen wir uns immer noch als das schwarze Schaf, als Außenseiter, egal, wo wir auftauchen. Wir fühlen immer noch diese Verbindung mit der Punk- und Hardcore-Szene auf eine Art, die uns ein Gemeinschaftsgefühl gibt – und wir versuchen, genau dieses Gefühl auch zu unseren größeren Shows zu bringen.
Info
Rise Against spielen am 7. November in der Rockhal (Org. A-Promotions).
Karten gibt es auf www.atelier.lu
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