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Lust zu lesenWie ’n Elch: In „Kurzstrecke“ versammelt Björn Kuhligk Momentaufnahmen aus Berlin

Lust zu lesen / Wie ’n Elch: In „Kurzstrecke“ versammelt Björn Kuhligk Momentaufnahmen aus Berlin
Björn Kuhligk Foto: Achim Wagner

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Berlin ist die Hauptfigur in diesem Buch, aber doch nur insofern als die Stadt sich aus den einzelnen Orten und Menschen zusammensetzt, die der Autor beschreibt und denen er zuhört, der Frau, die vom Barhocker gefallen ist und sich das Bein gebrochen hat, dem Mann mit respekteinflößendem Nacken und vernarbten Armen im Patientenwarteraum, der seiner Tochter beim Videospiel zusieht, dem Taxifahrer und seinen Weisheiten: „Ick war mit meener Freundin neulich inner Oper, Mann, Mann, dit is nich meene Sache. Stundenlang. Aba ick hab wat jelernt. Solange die noch singen, is die Oper nich vorbei, dit gilt ooch fürs Leben, so einfach is dit!“

Scheinbar Nebensächliches entwickelt in Kuhligks Prosa einen enormen Witz. Die einzelnen Aufzeichnungen, die größtenteils in der TAZ veröffentlicht wurden, sind oft auf die Schlusspointe hingeschrieben, begnügen sich aber keineswegs damit. Vielmehr streifen sie alle möglichen ernsten Themen von der Wohnungssuche über prekäre Lebenssituationen bis hin zur Gentrifizierung von Spielplätzen. Früher waren einige davon mit herumlümmelnden, kettenrauchenden Müttern besetzt, die jederzeit bereit waren, ihr Kind bis aufs Blut zu verteidigen, auch wenn es nur um ein Sandförmchen ging. Dann tauchten nach und nach die teuren Buggys auf mit diesen „lieben, veganen, zuckerfreien Kindern“, die daran gewöhnt sind „ihren Namen mindestens zweimal sagen zu müssen, ehe er verstanden wird“, und der Autor konstatiert: „Es fehlt die Frau, die quer über den Spielplatz brüllte: ‚Melissa, Melissaaaaa, Mutti muss pissen wie ’n Elch, und jetzt Abmarsch!‘“

Diese Polaroids, diese Momentaufnahmen, die Kuhligk in seinem Band versammelt, erzählen minimale Szenen, die jeweils ein ganzes Leben in sich tragen, voller Humor und so skurril wie der Alltag in Berlin, wenn man denn das Ohr und die Augen hat, das Geschehen wahrzunehmen.

Björn Kuhligk<br />
Kurzstrecke.<br />
Quintus-Verlag,<br />
160 S., 14 Euro
Björn Kuhligk
Kurzstrecke.
Quintus-Verlag,
160 S., 14 Euro

Denn „Kurzstrecke“ meint nicht nur kurze Texte, sondern auch das Ephemere des Augenblicks, der voller Originalität steckt, die aber kaum einem auffällt, bevor alles wieder vergangen ist. Schriftfotos könnte man diese Prosastücke nennen, in denen Björn Kuhligk der Stadt aufs Maul schaut. Er selbst ist Berliner durch und durch. Als er jemanden aus Versehen anrempelt, sich entschuldigt, der andere trotzdem in badischem Dialekt meckert, denkt er: „Alter, leg dich nicht mit einem Stadtkind an. Du kommst aus dem Südwesten unseres Landes, aus einem dieser Dörfer, die von zwei Ortausgangsschildern zusammengehalten werden, darüber Himmel, darunter saftiger Boden mit niedriger Bombardierungsdichte. Du kannst mir nichts! Wir haben die Unfreundlichkeit erfunden.“ Gerade diese Direktheit macht einem Berlin sympathisch.

Björn Kuhligk hat mit „Kurzstrecke“ ein ungeschminktes Stadtgesicht skizziert, ein literarisches Fotoalbum hinterlegt, das ungemein unterhaltsam ist und einem zugleich die Hauptstadt näherbringt.