Auf den ersten Blick denkt man, ein kleines Mädchen mit Zöpfen hätte sich im Museum auf einen der Schaukästen gesetzt und würde die nackten Füße herunterbaumeln lassen. Die Kleine hat dazu ein charmantes Grinsen aufgesetzt.
Erst beim Näherkommen merkt man, dass sie irgendwie anders aussieht. Ihr Gesicht wirkt ungewöhnlich keilförmig mit einem fast waagerecht verlaufenden Nasenbein. Es handelt sich um die Rekonstruktion eines etwa siebenjährigen Mädchens, das vor etwa 65.000 Jahren in Südwestfrankreich bestattet wurde. Ein Neandertaler-Mädchen.
Das Neanderthal Museum im westdeutschen Mettmann bei Düsseldorf hat es sich zur Aufgabe gemacht, die neuesten Forschungsergebnisse zum Homo neanderthalensis einem größeren Publikum zu vermitteln. Seine wichtigste Botschaft: Die Neandertaler waren keine Keulen schwingenden Wilden, sondern richtige Menschen. Sie haben vermutlich ähnlich gesprochen wie der moderne Mensch. Und ihr Gehirn war sogar größer.
Neue Studien überraschen
In den vergangenen Jahren ist das Bild der Neandertaler durch neue Studien so oft korrigiert und erweitert worden, dass das Museum immer wieder angepasst werden musste. „Wir müssen immer wieder Jahreszahlen abkratzen und neu drucken und Texte austauschen, weil es gerade wirklich sehr, sehr schnell geht“, erzählt Bärbel Auffmermann, die Direktorin des seit 26 Jahren bestehenden Museums. Es liegt in unmittelbarer Nähe der Fundstelle jenes Fossils, das hier 1856 entdeckt wurde und der Menschenart letztlich ihren heute weltweit verwendeten Namen gab. Auch die lebensgroße Nachbildung dieses Neandertalers, dessen Knochen seit 1877 im Rheinischen Landesmuseum in Bonn aufbewahrt werden, ist vor einiger Zeit noch einmal neu geschaffen worden.
„Nachdem die Paläogenetik nachgewiesen hat, dass die Neandertaler nicht so hellhäutig waren wie wir, sondern dunkler pigmentiert, haben wir die Figur noch einmal neu erstellt“, berichtet Auffermann. Hellere Haut kam nach heutigem Forschungsstand erst zu einer Zeit auf, als es schon lange keine Neandertaler mehr gab.
In den vergangenen Jahren hat sich immer deutlicher gezeigt, dass die Neandertaler über beachtliche kognitive Fähigkeiten verfügt haben müssen. Sie waren möglicherweise sogar künstlerisch tätig, zumindest aber besaßen sie ein ästhetisches Empfinden und kommunizierten auch über Symbole. So entdeckten Forscher in der Einhornhöhle im Harz einen von einem Neandertaler verzierten Riesenhirsch-Knochen. In spanischen Höhlen haben sie mit Ocker schon vor mehr als 60.000 Jahren Wände bemalt. Forscher glauben, dass die schwer zugänglichen tieferen Höhlen Heiligtümer für Initiationsriten oder andere wichtige Zeremonien waren.
Keine Frage der Intelligenz
Trotz dieser Zeugnisse ist der Begriff „Neandertaler“ bis heute ein Schimpfwort. In der Umgangssprache steht die Bezeichnung für unbeherrschte, grobe und brutale Menschen. Diese Vorstellung reicht weit zurück bis kurz nach dem legendären Knochenfund im Neandertal. Schon auf den ersten Zeichnungen wurden Neandertaler als gebückte, behaarte Höhlenwesen dargestellt. Stets trugen sie eine Keule in der Hand – obwohl bei den zahlreichen Neandertaler-Fossilien niemals eine Keule gefunden worden ist.
„Die Darstellungen knüpften an ein Bild an, das seit der Antike in der abendländischen Kultur verbreitet war“, erläutert Auffermann. „Das ist der wilde Mann, der am Rande der Zivilisation lauert. In dieser Welt sind wir die Edelwilden, die sich letztlich gegen die Primitivlinge durchgesetzt haben.“
In Wahrheit lebten die Neandertaler und der Homo sapiens sehr ähnlich: Sie waren eiszeitliche Jäger und Sammler, immer auf Wanderschaft. Sie erlegten Wisente, Rentiere und manchmal auch ein Mammut. Bei Steinwerkzeugen aus der damaligen Zeit kann man heute zum Teil gar nicht sagen, ob sie von Neandertalern oder vom Homo sapiens stammen.
Von der früher verbreiteten Vorstellung, dass sich beide Menschenarten ständig bekämpften, bis schließlich nur noch eine übrig war, ist die Wissenschaft schon lange abgerückt. Im Gegenteil: Neandertaler gehörten sozusagen zur lieben Verwandtschaft. Sie und der Homo sapiens kamen sich häufig näher, hatten Sex und Kinder. Deshalb tragen die meisten Europäer heute zwei Prozent Neandertaler-DNA in sich. Ein Vergleich von DNA-Strängen zeigt: Diese Gene haben das Immunsystem des modernen Menschen gestärkt, aber auch Nachteiliges wie Nikotinsucht und Depressionen vererbt. Man kann sich also auch einen melancholischen Neandertaler vorstellen.
Warum die Neandertaler vor 40.000 Jahren ausstarben, ist bis heute ein Rätsel. Vermutlich wurden sie einfach ein Opfer veränderter klimatischer Bedingungen. Als der Homo sapiens vor etwa 40.000 Jahren aus Afrika kommend Europa erreichte, war dort die Zahl der Neandertaler durch den ständigen Wechsel von wärmeren und sehr kalten Klimaphasen bereits stark zurückgegangen. Auffermann ist davon überzeugt: „Es war sicherlich keine Frage der Intelligenz. Wir sind allein aus Zufall übrig geblieben.“
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