Marcel H. grinst in die Kamera, im Vordergrund seine blutverschmierten Hände. Hat man das Foto einmal gesehen, brennt es sich ein. Dieses Bild soll der mutmaßliche Doppelmörder von Herne mit einem Bekannten geteilt haben. Screenshots zeigen einen WhatsApp-Chat, in dem H. seinen Bekannten auf die Internetseite 4chan anspricht. Die Screenshots des Chats und die Bilder landeten später genau auf dieser Plattform.
4chan ist eine Art anonymes Internet-Forum. Nach eigenen Angaben besuchen die Seite jeden Monat mehr als 27 Millionen Nutzer. Täglich erstellen sie bis zu eine Million neue Posts. Etwa 70 Prozent der Nutzer sind Männer, ihr Alter liegt zwischen 18 und 35 Jahren.
Die Seite besucht man in der Regel nicht grundlos, man stolpert nicht mal eben über einen Link dorthin. Und selbst wenn, werden viele vom unübersichtlichen und etwas angestaubten Design, dem eigenwilligen Vokabular und den verwinkelten Strukturen schnell abgeschreckt. Nutzer müssen sich dort nicht anmelden und keine Pseudonyme ausdenken. Hier heißt jeder «Anonymous». Zur Identifikation der Inhalte hat jeder Post eine Nummer.
«Anonymous»
4chan teilt sich in viele verschiedene Unterforen auf. Es gibt zum Beispiel welche zu japanischen Comics, Fitness, Pokémon, Origami und Mode. Herzstück der Seite ist jedoch das «Random»-Forum, aufgrund seiner Internetadresse auch /b/ genannt. Hier ist alles erlaubt, es gibt keine Tabus. Hier entstehen viele der Internetphänomene (sogenannte Memes), die später ihren Weg in soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook finden. Wer aber auf der Suche nach Pornografie oder Bildern von toten Menschen ist, wird hier ebenfalls fündig.
Bevor ein neuer Nutzer das Forum betritt, wird er darauf hingewiesen, dass 4chan nicht selbst die Inhalte erstellt. Diese seien von den Nutzern, deswegen könne 4chan auch nicht zur Verantwortung gezogen werden. Zwar gibt es Regeln für die Inhalte – so darf etwa nichts hochgeladen werden, das gegen US-amerikanisches oder das Recht des jeweiligen Landes verstößt, heißt es. Das kümmert in den meisten Fällen allerdings weder die Nutzer noch die Administratoren. Nur wenige spezielle Inhalte werden tatsächlich gelöscht, darunter etwa Kinderpornografie.
Der Ton auf 4chan ist rau. Oft bezeichnen sich die Nutzer als «/b/tards» (eine Wortkreation aus dem Forennamen /b/ und dem englischen Wort retard) oder «faggot» (Englisch für «Schwuchtel»). Sie beschimpfen sich, äußern sich rassistisch, bezeichnen sich als Autisten und stacheln sich zum Suizid an – alles unter dem vermeintlich schützenden Deckmantel des Sarkasmus und der Satire.
4chan-Nutzer
Wegen der Anonymität sind viele 4chan-Nutzer auch skeptisch, ob veröffentlichte Inhalte tatsächlich authentisch sind. Die Starter einer Diskussion (genannt «OP» für Original Poster) werden deshalb immer wieder aufgefordert, ihre Inhalte zu verifizieren. Das passiert etwa mit Zeitstempeln, die mit der Hand auf einen Zettel geschrieben und im Foto platziert werden. Üblich ist auch die Forderung, einen Schuh im Bild zu platzieren.
Beides findet sich auch in Bildern des Falls in Herne wieder, die auf 4chan erschienen. Auf Fotos des zweiten Opfers ist ein Zettel mit einem Zeitstempel zu sehen. Auf der Leiche steht außerdem der Schuh des mutmaßlichen Täters. Einige Nutzer freuen sich in den Kommentaren darunter anscheinend, live am Ort des Geschehens sein zu können. Andere sind entsetzt, was sie dort sehen und schreiben, dass sich der mutmaßliche Täter stellen soll.
Doch auch viele zweifeln an der Echtheit der Inhalte – teils berechtigt, wie sich später herausstellte. Nach Angaben der Polizei war nur ein Teil der Bilder und Informationen echt, die Marcel H. auf 4chan zugeschrieben wurden. Dazu zählen das Selfie mit den blutigen Händen und das Bild des zweiten Opfers mit Schuh und Zeitstempel.
Fakebilder
Marcel H. hat in seiner Vernehmung abgestritten, das Bild selbst auf 4chan hochgeladen zu haben. «Wer dieses Bild hochgestellt hat, verschickt hat, wohin er es geschickt hat und wer es ins Internet gestellt hat, steht bisher nicht fest», sagte Klaus-Peter Lipphaus, Leiter der Mordkommission Bochum am Freitag. Die Ermittler zweifeln aber daran, dass Marcel H. mit Blick auf 4chan die Wahrheit gesagt hat. Und sie gehen davon aus, dass er in der Wohnung des zweiten Opfers über dessen Rechner Zugang zum Internet hatte.
Für Verwirrung sorgte dagegen etwa ein Bild von einem Hund, das ebenfalls ein Blatt mit einem Zeitstempel enthielt und Marcel H. zugeschrieben wurde. Das entlarvten die Beamten als Fake. «Unsere Ermittlungen sind durch solche Handlungen erheblich gestört und in völlig falsche Richtungen gelenkt worden», monierte Lipphaus. Auch ein Bekennerschreiben, das von Marcel H. stammen könnte, tauchte auf 4chan auf – in einem Eintrag mit einem Bild, das die Beamten als authentisch einstufen. Als P.S. schreibt der Autor: «Ich bin allerdings stolz, dass ich ein Meme geworden bin.»
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