Von der Jeunesse zur FLF
Doch beginnen wir von vorn, zu der Zeit, als der Verwaltungsrat der FLF einen Schlussstrich unter die Ära Ernst Melchior zog. Der frühere österreichische Flügelstürmer (geb.1920, gest.1978) amtierte vom 12.10.1969 (1:5 in Luxemburg gegen Polen) bis zum 26.4.1972 (0:6 in Prag gegen die Tschechoslowakei) in 22 Spielen als Trainer der Luxemburger Mannschaft. Seine Nachfolge übernahm vor 50 Jahren der Franzose Gilbert Legrand, der zuerst Coach in Audun-le-Tiche und danach bei der Jeunesse war.
Bei den Eschern, mit denen er auf Anhieb Meister wurde, sammelte Legrand internationale Erfahrung. Im Europacup der Meister führte er seine Mannschaft 1968 zu einem 3:2-Erfolg über AEK Athen (Hinspiel 0:3) und im Jahr danach im Messecup ebenfalls zu einem 3:2-Sieg über Coleraine (Rückspiel 0:4).
Sein Debüt als Nationaltrainer gab Legrand an einem warmen Herbsttag am 7. Oktober 1972 im hauptstädtischen Stadion. Gegner war Italien, das zusammen mit der Schweiz, der Türkei und Luxemburg in der Gruppe 2 der Qualifikation für die WM 1974 in Deutschland stand.
Erst das Fernsehen …
Rund 10.000 Zuschauer (darunter 8.000 „tifosi“) sahen in einem langweiligen Spiel einen klaren 4:0-Erfolg der Italiener über eine ersatzgeschwächte Luxemburger Elf. Als Star des Tages entpuppte sich der französische Schiedsrichter Robert Wurtz, ein früherer 400-m-Läufer aus dem Elsass, der manchmal furiose Sprints hinlegte und das Publikum zu Anfeuerungsrufen ermunterte.
Am zufriedensten aber war wohl der damalige FLF-Kassierer René Courte. Der Ticketverkauf brachte eine Million Franken ein, das italienische Fernsehen RAI zahlte zwei Millionen Lire für die Direktübertragung und aus der Bandenwerbung kam noch einmal eine halbe Million Franken hinzu.
Wegen der Live-Sendung nach Italien begann das Spiel mit Verspätung … weil die Radprofis beim am selben Tag ausgetragenen „Giro di Lombardia“ den Zeitplan nicht einhielten und zuerst die Zielankunft (mit Eddy Merckx als Sieger) abgewartet werden musste, ehe nach Luxemburg umgeschaltet werden konnte.
… dann die Musik
Da solch ein Malheur offenbar selten allein kommt, wiederholte es sich 15 Tage später in Esch/Alzette. Es war kalt an diesem Sonntagnachmittag, den 22. Oktober 1972. Die Wolken hingen tief über dem Galgenberg, es regnete in Strömen.
Da es damals gang und gäbe war, dass vor offiziellen Länderspielen der A-Mannschaften auch Begegnungen von Jugendteams angesetzt wurden, programmierte die FLF die Juniorenpartie Luxemburg gegen Island als Vorspiel zu Luxemburg – Türkei. Heute wäre solches nicht mehr denkbar.
Dank zweier Tore des Oberkorners Marcel Di Domenico (später FC Metz, Hazebrouck, Red Boys, Spora) landeten die Luxemburger Junioren einen schmeichelhaften 2:1-Sieg. In der damaligen Jugendmannschaft standen u.a. der überragende Torhüter Claude Birenbaum, der Beggener Gilbert Dresch und der Jeunesse-Mann André Zwally, der heute Schöffe in seiner Heimatstadt ist.
Wegen des Dauerregens kann man sich ausmalen, wie der Rasen des Emile-Mayrisch-Stadions nach der ersten Partie aussah. Als die Begegnung der Junioren vorbei war, marschierte wie damals üblich die Escher Stadtmusik auf, um die rund 5.000 Zuschauer nicht nur mit den Nationalhymnen, sondern mit weiteren flotten Melodien aufzuwärmen.
Dauerregen
Das schien nicht ganz nach dem Geschmack des deutschen Schiedsrichters Karl Riegg zu sein, der um Pünktlichkeit besorgt war, aber elf Minuten warten musste, bis die Musikanten abgezogen waren und ihre Plätze auf der Tribüne eingenommen hatten.
Das Treffen begann also, wie zwei Wochen zuvor Luxemburg – Italien, mit großer Verspätung. Die Ausgangslage war dieselbe. Elf Jahre lang hatte die Nationalmannschaft kein WM-Qualifikationsspiel mehr gewonnen. Seit dem denkwürdigen 4:2 über Portugal am 8. Oktober 1961 hatte es bei WM-Spielen wenig Grund zum Jubeln gegeben.
Gegenüber dem Italien-Spiel musste Trainer Gilbert Legrand seine Mannschaft auf mehreren Positionen umbesetzen. Nico Braun, der bei Schalke 04 unter Vertrag stand, stieß wieder zum Team, indes Paul Philipp nicht von seinem Verein Union Saint-Gilloise freigestellt wurde. Damals gab es noch keine fixen Daten für Nationalmannschaftsspiele. Die Verhandlungen mit den Klubs in Bezug auf Freistellungen der Profis waren recht komplex und manchmal sogar peinlich.
Die Kulisse des Länderspiels, rund 4.000 Zuschauer, bestand mehrheitlich aus türkischen Gastarbeitern mit fast ebenso vielen Regenschirmen, die man seinerzeit noch mit auf die „Gradins“ nehmen durfte. Der Luxemburger Anhang war in der Minorität, die Abwesenden hatten unrecht.
Elastische Beine
Luxemburg spielte sich schon in den Anfangsminuten drei Eckbälle heraus, ein jeder spürte, dass sich ein sogenanntes Fußballwunder anbahnte. In der 14. schlug Gilbert Dussier zu, zwei Minuten später versetzte Nico Braun den Türken den Knock-out.
Die Freude war verständlicherweise groß, denn Luxemburg scorte damals nicht oft im Doppelpack. Drei Jahre zuvor, am 10. April 1969, schossen „unsere“ Spieler beim 2:1-Sieg im Freundschaftsmatch gegen Mexiko gar alle Treffer, denn Fernand Jeitz half den Mexikanern mit einem Eigentor aus. Für Luxemburg waren Johny Léonard und Paul Philipp erfolgreich. Die Partie gegen Mexiko war gleichzeitig das Abschiedsspiel von Trainer Robert Heinz.
Doch zurück zu Luxemburg – Türkei. Gilbert Dussier, der Dribbelkünstler mit den elastischen Beinen, wirbelte die Abwehr der Türken derart durcheinander, dass den rechten Verteidiger Ekrem die Höchststrafe ereilte. Er wurde schon in der ersten Hälfte von seinem Coach vom Feld genommen und ersetzt.
Nach der Pause ging Trainer Gilbert Legrand keine Risiken mehr ein. Die Luxemburger Mannschaft überließ der Türkei das Heft, konterte aber immer wieder gefährlich. Es blieb beim verdienten 2:0 Luxemburgs.
Die ganze Mannschaft
Ich erinnere mich gut: Wir führten am Abend nach dem Spiel in der Tageblatt-Redaktion unendliche und überflüssige Diskussionen darüber, wer denn nun am meisten zu diesem Sieg beigetragen hatte.
Waren es die beiden Torschützen Nico Braun und Gilbert Dussier, die ständig Gefahr im gegnerischen Strafraum heraufbeschworen? Oder etwa Louis Trierweiler und Louis Pilot, die auf dem aufgeweichten und schmierigen Platz im Mittelfeld die Fäden zogen? Oder gar die Abwehr mit der Zentralachse Fernand Jeitz und René Flenghi, die beide wie ein Fels in der Brandung standen, als die türkische Welle nach der Pause anrollte?
Die Antwort lag auf der Hand: Es war die ganze Mannschaft!
Luxemburg spielte damals mit Raymond Zender im Tor, Johny Kirsch, Fernand Jeitz, René Flenghi und Fino Da Grava in der Vierer-Abwehrkette, Louis Pilot, Guy Weis, Louis Trierweiler und „Spitz“ Martin im Vierer-Mittelfeld sowie den beiden Stürmern Nico Braun und Gilbert Dussier. In der 70. Minute wurde Lucien Welscher für Nico Braun eingewechselt. Auf der Ersatzbank saßen René Hoffmann, Roger Fandel, Henri Roemer und Joé Hansen.
Alles ist anders
Von der damaligen Mannschaft sind Raymond Zender, Fino Da Grava, Louis Pilot, Gilbert Dussier sowie die Reservespieler René Hoffmann und Henri Roemer nicht mehr am Leben. Trainer Gilbert Legrand starb fünf Jahre nach dem Triumph von Esch an einer heimtückischen Krankheit. Er betreute die Luxemburger Elf in 34 Spielen, zuletzt am 3. Dezember 1977 im Olympiastadion von Rom bei der 0:3-Niederlage gegen Italien. Neun Tage später verließ er uns im Alter von nur 44 Jahren.
Heute Abend ist die Türkei wieder Gegner Luxemburgs in einer offiziellen Begegnung. Für das Team von Luc Holtz, das nach zwei UEFA-Nations-League-Runden genau wie die Türkei sechs Punkte auf dem Konto hat, wird es das „Spiel des Jahres“ sein.
Alles ist anders als damals, angefangen beim perfekten Rasen über die Trainingsbedingungen und die Ernährung bis zur medizinischen, sportlichen und psychologischen Betreuung.
Von etwaigen Vergleichen wird demnach strengstens abgeraten …
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