Erinnern Sie sich noch an den 8. April 2018? Ja? Dann wissen Sie mit Sicherheit auch um den schrecklichen Vorfall, der damals Fahrer und Begleiter des Radrennens Paris-Roubaix in tiefe Trauer stürzte.
Vor fünf Jahren, fuhr der Belgier Michael Goolaerts ausgangs des „Pavé“-Sektors Nummer 28 Viesly-Biastre schnurstracks auf die linke Straßenseite, fiel vom Rad und blieb regungslos auf dem Boden liegen.
Goolaerts holländischer Sportdirektor Michiel Elijzen erhielt die Nachricht vom Unfall über Radio-Tour. „Chute, chute, Vérandas-Willems“ meldete der Sender. In dem Moment tuckerte der Vérandas-Wagen als letzter in der Kolonne der Mannschaftsautos, gleich dahinter fuhr die Ambulanz. Beide trafen praktisch gleichzeitig am Unfallort ein.
Dank eines Defibrillators konnte Goolaerts am Leben gehalten und ins Krankenhaus von Lille geflogen werden. Dort aber starb der 23-Jährige im Beisein seiner Familie gegen 22.40 Uhr.
„Wertlos“
Die Autopsie bestätigte die Hypothese eines Herzinfarkts während des Rennens. Für die Radsportanhänger brach eine Welt zusammen. Goolaerts galt als beliebter, junger Fahrer, der nicht nur im eigenen Team für seine Zuvorkommenheit geschätzt wurde. Sein bester Freund war Mannschaftskollege Wout Van Aert, der an jenem traurigen Tag sein Debüt bei Paris-Roubaix gab und auf den 13. Platz fuhr.
Im Frühjahr 2018 entdeckte Van Aert die Radklassiker. Anfang Februar war er Cyclocross-Weltmeister geworden, einen Monat später stieg er bei den „Strade Bianche“ auf die dritte Stufe des Podiums, danach klassierte er sich als Neunter der „Ronde van Vlaanderen“ und eine Woche später als 13. von Paris-Roubaix.
„Der Tod meines Freundes hat alle meine guten Resultate wertlos gemacht“, schrieb Van Aert Tage nach dem Unfall in einem offenen Brief. „Ich kenne Michael, seit ich Aspirant bin. Wir sind beide 1994 geboren und kommen darüber hinaus aus derselben Region. Wir sind also schon lange als Konkurrenten zusammen gefahren. Erst seit 2017 sind wir Teamkollegen. Ich erinnere mich an Michael als einen lächelnden Jungen. Nie bösartig und immer extrem motiviert. Paris-Roubaix war auch Michaels Traumstrecke. Wir sprachen während des Rennens miteinander – nachdem die erste Ausreißergruppe weg war. Er wollte mir so lange wie möglich helfen. Ich habe während des Rennens nie erfahren, was passiert ist. Der Teamchef traf die Entscheidung, mich nicht zu informieren, und ich denke, das war der richtige Entschluss.“
Ein Jahr nach dem schrecklichen Unfall kehrte Wout Van Aert in die „Hölle des Nordens“ zurück und klassierte sich als 22. Zwölf Monate später machte Covid-19 dem Rennen einen Strich durch die Rechnung. In den beiden letzten Jahren fuhr Van Aert zweimal in die Top Ten, zuerst auf Rang 7 (2021) und danach hinter seinem Teamkollegen Dylan Van Baarle auf den zweiten Podiumsplatz (2022).
Diesmal soll der große Coup gelingen, denn Van Aert will seinen früheren Teamkollegen „Goolie“, wie viele ihn nannten, endlich mit einem Sieg ehren. „Für Wout ist der tragische Tod von Michael eine zusätzliche Motivation, um dieses Rennen zu gewinnen“, meint der damalige Teamchef Michiel Elijzen. „Der Unfall hat ihn stark mitgenommen, er ist erst in Frieden mit sich selbst, wenn er auf dem Velodrom in Roubaix als Sieger ins Ziel fahren und die Arme gen Himmel recken kann.“
Weil „Vlaanderen“-Gewinner Tadej Pogacar nicht am Start ist („Ich muss noch einige Kilo zulegen, um auf diesen Pavés zu bestehen“, meint er), dürfte Mailand-Sanremo-Sieger Mathieu Van der Poel der stärkste Konkurrent von Van Aert werden. Aufpassen aber muss der Belgier auf den Stundenweltrekordler Filippo Ganna, der nach seinem zweiten Platz in Sanremo auch das Podium in Roubaix anpeilt. Viel wird natürlich davon abhängen, ob die Sonne und der Wind die Kopfsteinpflaster in einen trockenen Zustand versetzt haben oder ob der Boden wegen des vielen Regens in der Woche schmierig ist und dadurch vermehrt Sturzgefahr besteht.
54,5 km „Pavés“
Bei der „Reine des classiques“ ist mit Alex Kirsch im Trek-Segafredo-Team auch ein Luxemburger am Start. Es ist sein fünfter Versuch nach 2018, 2019, 2021 und 2022. Das Ziel im Velodrom Jean Stablinski erreichte Kirsch bisher nicht. Sonntag muss er wie in den Rennen zuvor seinem Leader Mads Pedersen so gut wie möglich zur Seite stehen.
Auf den 257,5 Kilometern von Compiègne nach Roubaix wird es 29 „Pavé“-Sektoren geben (im Total 54,5 km), darunter die „obligatorischen“ Abschnitte wie die „Tranchée“ (oder „Trouée“) d’Arenberg“, „Mons-en-Pévèle“ oder der legendäre „Carrefour de l’Arbre“.
Weil nach der „Tranchée d‘Arenberg“ immerhin noch 93 km mit 18 „Pavé“-Sektoren verbleiben, kann die Entscheidung kaum dort fallen. Viel eher kommt der „Carrefour de l’Arbre“ rund 17 km vor Roubaix als „Scharfrichter“ infrage (2.100 m „Pavé“).
Genau wie die „Tranchée“ und der „Carrefour“ gehört der 3 km lange Sektor 11 von Mons-en-Pévèle (48 km vor dem Ziel) zu den Abschnitten, die von den Veranstaltern mit fünf Sternen, also dem höchsten Schwierigkeitsgrad, „ausgezeichnet“ wurden. Diese knubbeligen Sektoren müssen auch die Frauen (mit u.a. Christine Majerus) passieren, denn ab Hornaing (82 km vor Roubaix) ist der Parcours bis ins Ziel der gleiche wie bei den Männern.
Alles ist demnach (auch für das weibliche Geschlecht) bestens gerichtet für Paris-Roubaix, „la dernière folie du cyclisme“, wie der frühere Tour-de-France-Direktor Jacques Goddet sein Rennen hochlobte.
Fakten
*120. Paris-Roubaix am Sonntag, dem 9. April 2023.
*Beiname: „L’Enfer du Nord“ („Hölle des Nordens“). „Quel enfer“, sagte der Journalist Victor Breyer, als er erstmals die Landschaft nach dem Krieg 1914-18 sah. Der Beiname für das Radrennen war gefunden.
*256,6 km mit 29 „Pavé“-Sektoren (insgesamt 54,5 km Kopfsteinpflaster).
*175 Fahrer aus 25 Mannschaften am Start: AG2R Citroën Team (Fra); Alpecin-Deceuninck (Bel); Astana Qazaqstan Team (Kaz); Bahrain Victorious (Bah); Bingoal WB (Bel); Bora Hansgrohe (Ger); Cofidis (Fra); EF Education Easypost (USA); Groupama FDJ (Fra); Ineos Grenadiers (Gbr); Intermarché Circus Wanty (Bel); Israel – Premier Tech (Isr); Jumbo-Visma (Ned); Lotto Dstny(Bel); Movistar Team (Esp); Q36,5 Pro Cycling Team (Sui); Soudal Quick-Step (Bel); Team Arkea-Samsic (Fra); Team DSM (Ned); Team Flanders Bâloise (Bel); Team Jayco AIUla (Aus); TotalEnergies (Fra); Trek-Segafredo (USA); UAE Team Emirates (UAE); Uno-X Pro Cycling Team (Nor).
*Definitive Startliste erst am Samstag nach der Sitzung der Sportdirektoren (ab 16.00 Uhr).
*Ein Luxemburger Fahrer im Feld: Alex Kirsch (Startnummer 53 – Trek-Segafredo).
*Provisorischer Start am Sonntag um 11.10 Uhr in Compiègne (Place du Palais). Definitiver Start um 11.25 Uhr außerhalb der Ortschaft auf der D130.
*Ankunft zwischen 17.00 und 17.45 Uhr in Roubaix (Vélodrome Jean Stablinski).
*Mannschaftsvorstellung am Samstag von 14.00 bis 16.30 Uhr in Compiègne.
*Erstauflage: 1896. Sieger war der Deutsche Josef Fischer.
*Rekordsieger mit vier Erfolgen: Roger De Vlaeminck/B (1972, 1974, 1975, 1977), Tom Boonen (2005, 2008, 2009, 2012). Sechs Fahrer mit je 3 Siegen: Octave Lapize/F (1909, 1910, 1911), Rik Van Looy/B (1961, 1962, 1965), Eddy Merckx/B (1968, 1970, 1973), Francesco Moser/I (1978, 1979, 1980), Johan Museeuw/B (1996, 2000, 2002), Fabian Cancellara (2006, 2010, 2013).
*Ein Luxemburger Sieger: François Faber (1913).
*Palmarès der letzten Jahre: Johan Museeuw/B (2000), Servais Knaven/NL (2001), Johan Museeuw/B (2002), Peter Van Petegem/B (2003), Magnus Backstedt/SW (2004), Tom Boonen/B (2005), Fabian Cancellara/CH (2006), Stuart O’Grady/AUS (2007), Tom Boonen/B (2008), Tom Boonen/B (2009), Fabian Cancellara/CH (2010), Johan Vansummeren/B (2011), Tom Boonen/B (2012), Fabian Cancellara/CH (2013), Niki Terpstra/NL (2014), John Degenkolb/D (2015), Matthew Hayman/AUS (2016), Greg Van Avermaet/B (2017), Peter Sagan/SLW (2018), Philippe Gilbert/B (2019), Sonny Colbrelli/I (2021), Dylan Van Baarle/NL vor Wout Van Aert/B und Stefan Küng/CH. Im Jahr 2020 wurde das Rennen wegen Covid-19 nicht ausgetragen.
*Wettquoten: Van Aert 4,00: Van der Poel 4,00; Pedersen 6,00; Van Baarle 7,00; Ganna 8,00; Asgreen 16,00; Laporte 16,00; Küng 22,00; De Lie 30,00; Lampaert 33,00; Vermeersch 33,00; Politt 40,00; Senéchal 40,00; Pidcock 40,00; Kristoff 50,00; Wright 50,00; Benoot 60,00; Ballerini 60,00; Stuyven 75,00; Philipsen 75,00 Trentin 75,00.
*Frauenrennen am Samstag, dem 8. April. Eine Luxemburger Fahrerin am Start: Christine Majerus (Startnummer 14 – SD Worx). Die Strecke führt über 145,5 km. Start in Denain um 13.35 Uhr, Ankunft in Roubaix im Velodrom zwischen 17.20 und 17.45 Uhr. Insgesamt 17 Kopfsteinpflaster-Abschnitte mit einem Total von 29,2 km. Die „Pavé“-Sektoren sind identisch mit den letzten 82,4 km des Männerparcours.
*Preisgelder: Männer: 1. Platz 30.000€, 2.: 22.000€, 3.: 15.000€, 4.: 7.500€, 5.: 3.200 €, 6.: 1.700€, 7.: 1.500€, 8.: 1.300€, 9.: 1.200€, 10.: 1.100€ usw. 20 Fahrer werden belohnt, der 20. erhält 500€. – Frauen: 1. Platz 20.000€, 2.: 11.000€, 3. 6.000€, 4. 3.000€, 5. 2.500€, 6. 1.500 €, 7. 800 €, usw. 20 Fahrerinnen werden belohnt, die 20. erhält 200€.
*Wetteraussichten: Sonntag (Männerrennen): sonnig, 12 Grad morgens in Compiègne, 16 Grad nachmittags in Roubaix. – Samstag (Frauenrennen): teilweise bewölkt, 12 Grad im Ziel.
*Direkte Fernsehübertragung des Männerrennens am Sonntag bei Eurosport (ab 10.30); France 3 (10.55-11.40 und 12.55-17.50); La Une (13.40) und RTL Zwee (14.00). – Damenrennen am Samstag bei Tipik (ab 15.15); France 3 (15.25); RTL Zwee (15.20) und Eurosport (15.00 und 22.30). (P.L.)
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können