Als George Scorey auf seinem Pferd Billy thronte und die Massen besonnen vom Spielfeld drängte, dürfte dem Police Constable kaum bewusst gewesen sein, welchen Mythos er dort begründete. Reinstes Chaos herrschte, als am 28. April 1923 mehr als 200.000 Fans in die neue, jedoch völlig überfüllte Arena im Londoner Stadtteil Wembley geströmt waren, um das FA-Cup-Finale zwischen West Ham und Bolton zu sehen.
Weil das Endspiel, die erste Partie im damals rund 120.000 Besucher fassenden Fußball-Tempel, erst angepfiffen werden konnte, nachdem die Zuschauer durch Scorey und seine Kollegen hinter die Auslinien befördert wurden, ging es als „White Horse Final“ in die Annalen ein. Und das, obwohl Billy in Wahrheit grau war und lediglich auf den Fotos weiß erschien.
Schon der Auftakt der mittlerweile 100-jährigen Wembley-Historie hätte kaum absurder verlaufen können, doch war es nur der erste Akt eines Jahrhunderts voller Legenden, Mythen, Triumphe und Tragödien. „Die Kirche, die Hauptstadt, das Herz des Fußballs“, nannte einst der legendäre Pelé das weltberühmte Stadion, den 2007 errichteten Neubau gar eine „Kathedrale“.
Ein großer Sieg, gefolgt von empfindlichen Niederlagen
An diesem sagenumwobenen Ort fügte Ungarns Wunder-Team den Engländern 1953 beim 6:3 die erste Niederlage auf heimischem Boden überhaupt zu, hier schoss Geoff Hurst gegen Deutschland im WM-Finale 1966 das berühmteste Tor der Fußball-Geschichte, das eigentlich gar keins war, und die Three Lions zum bislang einzigen WM-Titel. „Was the ball behind the line?“, fragte der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst seinen sowjetischen Linienrichter Tofik Bachramow. 2:2 stand es zu diesem Zeitpunkt in der Verlängerung, als Hurst den Ball an die Unterkante der Latte knallte. Von dort hüpfte das Leder auf die Torlinie und zurück ins Feld. Doch Bachramow bejahte Diensts Frage und zeigte zur Mittellinie: Tor für England. Dieser Treffer ging als „Wembley-Tor“ in die Fußballgeschichte ein. 35 Jahre später gestand Torschütze Hurst, der insgesamt dreimal erfolgreich war, in seiner Autobiografie, dass der Ball nicht hinter der Linie war. Das Wembley-Stadion entwickelte sich seit dieser tragischen Nacht zur Schicksalsstätte des englischen Fußballs.
„Krauts kaputt“ wurde in England nach dem Finalsieg über Deutschland zum geflügelten Wort – allerdings nur für sechs Jahre. Danach gab es gegen den ärgsten Rivalen einige empfindliche Niederlagen. 1972 bezwang die deutsche Mannschaft an gleicher Stelle die Engländer im EM-Viertelfinale mit 3:1. 1996 revanchierten sich die Deutschen bei der EM erneut.
Die Bilder des in Tränen aufgelösten englischen Stars Paul Gascoigne nach der Halbfinal-Pleite im Elfmeterschießen auf Wembleys heiligem Boden gingen um die Welt, gleichsam jene von Oliver Bierhoffs Jubel nach dem Golden Goal im Finale gegen Tschechien.
Besonders bitter für das Fußball-Mutterland: Im Oktober 2000 gewann die DFB-Elf das letzte Spiel im „alten“ Wembley mit 1:0. Danach blieb Wembley drei Jahre ein stilles Mahnmal. Nach finanziellen und politischen Problemen rückten erst 2003 die Abrissbirnen an. Aus Wembley wurde eine moderne Arena mit 90.000 Sitzplätzen.
Nachdem sich das englische Trauma auch nach dem Umbau zunächst fortsetzte, schlossen die britischen Fans zuletzt wieder Frieden mit ihrem Fußball-Nationalstadion. 2021 siegten die Männer im EM-Achtelfinale mit 2:0 gegen Deutschland, doch das spätere Finale gegen Italien ging ebenfalls in Wembley verloren. Erst der EM-Triumph der englischen Frauen 2022 im Finale gegen Deutschland vor einer EM-Final-Rekordkulisse (Frauen und Männer) von 87.192 Zuschauern sollte die englische Titelsehnsucht schließlich stillen.
Das Wembley wird 100, wirkt aber jünger denn je. Die bauliche Eleganz der 20er-Jahre ist protziger Postmoderne gewichen. Die Arena ist nicht nur optisch mit der Zeit gegangen. Statt improvisierter Skisprungschanzen aus Gerüstbauten wird nun einmal im Jahr für erstklassig vermarktete NFL-Spiele der Hightech-Kunstrasen ins Stadion gefahren. Doch der Mythos, die Legende, ist immer noch greifbar. (SID)
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