Wir schreiben den 17. Februar 1985. Es ist kalt an diesem Sonntag. Der Olympiapark von München, in dem 13 Jahre nach den Olympischen Spielen die Cyclocross-Weltmeisterschaften stattfinden, ist schneebedeckt, der Boden an manchen Stellen gefroren, die Strecke voller Tücken.
Sein „Lieblingsterrain“
Luxemburg ist mit vier Sportlern angereist. Bei den Junioren klassiert sich Olivier Triebel als 20. Im Amateurwettbewerb erreicht sein Bruder Pascal das Ziel auf Rang 40, Henri Schnadt gibt auf. Es bleibt das Titelrennen der Profis, bei dem Claude Michely, damals 25 Jahre jung (geb. am 8. Oktober 1959), neben 26 anderen Konkurrenten aus neun Ländern an den Start geht. Die Distanz beträgt 26,32 km.
Wie üblich hat sich der Luxemburger Meister gewissenhaft auf die Auseinandersetzung mit den weltbesten Querfeldeinfahrern vorbereitet. Sein Arbeitgeber, die Escher Gemeinde, hat ihm, dem gelernten Schreiner, einen Monat unbezahlten Urlaub gewährt. Die Moral ist gut, zwei Wochen zuvor hat Michely sich bei den vom Le Guidon Alzingen organisierten Meisterschaften seinen siebten Titel in der Kategorie der Amateure und Profis geholt.
An den Tagen vor dem WM-Rennen sieht sich Claude mit seinem Vater Johny, der ihm das Cyclocross-Virus vererbt hat (Michely Senior war Luxemburger Meister in den Jahren 1969, 1973, 1975), die Strecke im Olympiapark an. Des Juniors Augen leuchten, er freut sich auf Schnee und Eis, „sein Lieblingsterrain“, wie er so schön sagt.
Claude bevorzugt gut befahrbare, schnelle Strecken auf glattem Untergrund. Vor tief morastigen Feldern und Wiesen, wo es sozusagen unmöglich ist, auf dem Rad sitzen zu bleiben, hat er eine Abscheu.
Im Dreck von Saccolongo
Das Gegenteil von Claude Michely ist Lucien Zeimes, der Mann, dem er 1979 den Meistertitel abjagt. Dieser belegt im selben Jahr auf der vom Dreck her berüchtigtsten aller bisherigen WM-Strecken in Saccolongo bei Padua in Italien den 7. Rang im Profirennen. Zeimes (geb. am 30.10.1948) wird keine 54 Jahre alt, er verlässt uns am 1.10.2002. Die Weltmeisterschaft, bei der er so gut abschneidet, ist eher ein Laufwettbewerb durch Wasser und Schlamm denn ein Querfeldeinrennen. Und doch siegt der Favorit. Der Schweizer Albert Zweifel feiert seinen vierten Titel in Folge.
In Saccolongo bestreitet Claude Michely das Amateurrennen und klassiert sich auf Platz 40. In Wetzikon (1980) wird er 28. und in Tolosa (1981) 35. Danach wechselt er ins Profilager. Auf einen elften Rang im Jahre 1983 in Birmingham folgt am 19. Februar 1984 im holländischen Oss erstmals ein Top-Ten-Platz bei einer WM. Michely fährt als Achter ins Ziel. Das Trikot mit den Regenbogenfarben geht wie in den Jahren zuvor an den Belgier Roland Liboton.
Für das Rennen in München gibt es viele Favoriten. So den Titelverteidiger Liboton mit seinen belgischen Helfern Paul De Brauwer und Robert Vermeire, die mit der Strecke vertrauten Deutschen Klaus-Peter Thaler und Dieter Übing, den Schweizer Marcel Russenberger sowie die Holländer Adrie Van der Poel, Hennie Stamsnijder und Rein Groenendael.
Der Tipp des Gegners
Bei einem Plausch gibt Groenendael, der mit der niederländischen Delegation im selben Hotel logiert wie die Luxemburger, den Michelys den Tipp, auf dem verschneiten und relativ harten Boden nicht zu viel Luft in die Reifen zu füllen. So als habe jemand BINGO! gerufen, sausen Vater und Sohn noch einmal auf den Parcours.
Claude legt eine zusätzliche Trainingseinheit ein und fährt die Strecke mit nur wenig Luftdruck in den Reifen ab. Der unverhoffte Fingerzeig des holländischen Konkurrenten erweist sich als nützlich. Er birgt aber auch die Gefahr in sich, viel eher einen „Platten“ zu erleiden.
Am Tag des Rennens wird Claude Michely vom Pech verschont. Er startet im Olympiastadion wie eine Rakete, liegt schnell in Führung, wird in der zweiten Runde aber von Liboton, Van der Poel und dem 36-jährigen Klaus-Peter Thaler eingefangen.
Aus der Vierergruppe wird später eine Zwei-Mann-Spitze mit Michely und Thaler. Beide drehen ihre Runden wie ein gut geöltes Uhrwerk, müssen sich aber damit abfinden, dass Adrie Van der Poel, der Vater von Mathieu Van der Poel, kurz vor Inangriffnahme der Schlussrunde zu ihnen stößt.
In der letzten Steigung fährt Thaler volles Risiko, während Michely und Van der Poel den Anstieg laufend und mit geschultertem Rad hinter sich bringen. Das ist der entscheidende Moment, der über Gold, Silber oder Bronze entscheidet.
Thaler ist auf und davon. In der Abfahrt zum Stadion erlebt er zwar noch einen Schreckmoment, als er sich im Schnee verbremst, doch kann niemand mehr ihn am Titelgewinn hindern. Der Deutsche erreicht das Ziel zwei Sekunden vor dem Holländer und vier Sekunden vor dem Luxemburger. Für den Bund Deutscher Radfahrer ist es die zweite WM-Krone am Wochenende nach derjenigen von Mike Kluge bei den Amateuren.
Die erste Medaille
Eine Viertelstunde nach dem Rennen steigt Claude Michely als erster Luxemburger bei einer Cyclocross-WM aufs Podium. Mit seinem dritten Platz holt der Fahrer im rot-weiß-blauen Trikot die bisher einzige WM-Medaille in dieser Disziplin fürs Großherzogtum und löscht gleichzeitig die vorherigen Bestleistungen von Johny Goedert (5./1954), Charly Gaul (zweimal 5./1956, 1962) und Jängy Schmit (5./1959) aus.
Klammer auf! Gaul erzielt seine beiden fünften Plätze bei Weltmeisterschaften im eigenen Land, 1956 in Luxemburg-Stadt, sechs Jahre später in Esch-Alzette. Vor dem Rennen in der Minette-Metropole, das über 20.000 Schaulustige anlockt, braucht es viel Geduld und Überzeugungskraft von Mich. Becker, dem Präsidenten des organisierenden Vereins Vélo-Sport Esch*), um Gaul, den Landesmeister in der Disziplin, an den Start zu bewegen.
Der Tour-de-France-Sieger von 1958 ist der Magnet dieser WM, er übt eine unverzichtbare Anziehungskraft auf diejenigen aus, die im Vorverkauf eine Eintrittskarte erstehen sollen. Von Gaul erhofft man sich Kunststücke im mehrmals zu befahrenden steilen Anstieg des „Dieswee“ (300 m lang, durchschnittliche Steigung nahezu 16 Prozent), viele sehen in ihm etwas verfrüht den möglichen Weltmeister.
An Sieger Renato Longo aber beißt sich an diesem Sonntag, dem 18. Februar 1962, nicht nur der Luxemburger Klettermeister die Zähne aus. Dem schlaksigen Italiener aus Vittorio Veneto, einer Kleinstadt am Fuße der Trevisaner Voralpen, ist auf den Höhen des Galgenbergs nicht beizukommen. Longo wird im Laufe seiner Karriere fünfmal Weltmeister. Er verlässt uns am 8. Juni 2023, im Alter von 85 Jahren. Klammer zu!
„Sportler des Jahres“
Zurück zu Claude Michely. Dank seinem außergewöhnlich guten Resultat wird der Bronzemedaillengewinner von München im Januar 1986**) von den Mitgliedern der Luxemburger Sportpresse zum „Meilleur sportif 1985“ gewählt. Es ist eine der spannendsten Wahlen in der 69-jährigen Geschichte der Trophäen. Erst der letzte Wahlzettel bestimmt den Sieger. Claude Michely gewinnt mit nur einem Punkt Vorsprung (152:151) auf den Leichtathleten Justin Gloden, den Laureaten der Wahl 1980. Bei der Proklamation der Resultate im Casino 2000 von Mondorf fallen sich die Radsportferventen in die Arme. Freudestrahlend stemmt der Sieger die schwere Trophäe in die Höhe.
In den Jahren danach schafft es Claude Michely bei Cyclocross-Weltmeisterschaften noch einmal unter die „Top Ten“. In Mlada Boleslav (damalige Tschechoslowakei) wird er 1987 Zehnter, der Titelträger heißt erneut Klaus-Peter Thaler. Seine Cyclocross-WM-Karriere schließt der zwölffache Luxemburger Champion 1997 mit einem 36. Platz ab, und zwar dort, wo er ein Dutzend Jahre zuvor seinen größten Triumph gefeiert hat: im Olympiapark von München. Sein Rückstand auf den italienischen Weltmeister Daniele Pontoni, den Abonnementssieger des Petinger Neujahrsquers, beträgt 6‘45“. Immerhin lässt Michely noch 13 Konkurrenten hinter sich.
Mit 64 Jahren an einem Herzschlag zu sterben, ist eine Fatalität. Claude Michely ist viel zu jung von uns gegangen. Was bleibt, sind die Erinnerungen. Danke für die schöne Zeit, Champ! Mach’s gut …
*) Der Vélo-Sport Esch fusionierte 1986 mit der Union Cycliste Esch zur Vélo Union Esch.
**) Die Sportpressegala („Gala de la Presse Sportive“, heute „sportspress.lu Awards Night“) fand bis 1998 immer im Januar statt, wechselte dann in den Dezember. Im Jahr 1998 gab es im Mondorfer Casino 2000 zwei Trophäenüberreichungen, eine im Januar (für das Jahr 1997), eine im Dezember (für 1998).
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