In der Regel sind Gespräche mit den Wirtgen-Brüdern angenehm. Tom, wie auch Luc, strahlen beide Ruhe und Gelassenheit aus – auch im Austausch mit Journalisten. Beim Treffen mit dem Tageblatt im Trainingslager in Altea (E) – war das nicht anders. Bis plötzlich die Miene doch ungewohnt ernst wird. Tom, der ältere Bruder von Luc, fängt an, über seine Corona-Infektion im Dezember zu sprechen. „Nachts konnte ich kaum atmen“, sagt er. „Mit geschlossener Tür oder geschlossenem Fenster ging es gar nicht – beide mussten offen sein. Eines Nachts war ich kurz davor, den Notarzt zu rufen. Es war, als ob jemand dir den Hals zudrückt. Ich schlief kaum. Und wenn, dann nicht tief. Ständig wachte ich auf, weil ich keine Luft bekam.“
Tom sollte ins erste Trainingslager der Mannschaft reisen, bekam zwei Tage vorher Husten und Kopfschmerzen. „Um niemanden zu gefährden, machte ich sicherheitshalber einen Schnelltest“, erzählt er. „Ich war positiv. Ab diesem Tag ging es zwei Wochen stark bergab.“ Der 25-Jährige war zu diesem Zeitpunkt einfach mit dem Vakzin von Johnson & Johnson geimpft, die Booster-Dosis sollte nach dem Trainingslager erfolgen. „Ich war die ganze Zeit müde, hatte Kopfschmerzen. Ich habe dann meinen Geschmacks- und Geruchssinn verloren.“ Erste Besserung war nach zwei Wochen zu verspüren, nach drei Wochen konnte er gar wieder trainieren. Nun, etwa sechs Wochen später, „geht es wieder“, sagt er.
Luc Wirtgen peilt Ardennenklassiker an
Im Trainingslager geht es für Tom nun darum, die Grundlagen zu erreichen. „Ich habe das Virus nie unterschätzt – aber in meiner Situation als Sportler, in meinem Alter, hätte ich nicht damit gerechnet, dass es mich so erwischen würde.“ Gesundheitlich geht es, und das ist die Priorität, also wieder besser – sportlich hinkt er indessen hinterher. Wenn seine Mannschaftskameraden Intervalle angehen, bestreitet Tom sein eigenes Programm.
Nicht vom Coronavirus betroffen ist Luc. Der 23-Jährige hat im Winter ein reguläres Trainingsprogramm gehabt, war nicht krank und blickt nun ambitioniert auf die kommende Saison. Dabei stehen für ihn drei Hauptziele an: die Etappenrennen zu Beginn des Jahres, die Ardennen-Klassiker sowie die Rundfahrten in der zweiten Saisonhälfte, wie das Arctic Race of Norway, die Tour du Limousin oder auch die Tour de Luxembourg. Schon im letzten Jahr zeigte er, dass bei diesen Rennen mit ihm zu rechnen ist: Das Etappenrennen in Norwegen beendete er auf Platz 15, bei der Tour de Hongrie wurde er 12. und bei der Tour du Limousin 14.
In diesem Jahr will er sich bei den Etappenrennen ein paar Plätze nach vorne arbeiten – und sich somit in den Top Ten etablieren. Sein Highlight der Saison bleiben aber die Ardennen-Klassiker. 2021 sammelte er erste Erfahrung bei Liège-Bastogne-Liège, das er auf dem 46. Platz beendete. „Ich will bei diesem Rennen vielleicht noch mal eine Gruppe weiter vorne mitfahren“, sagt Luc, der aktuell im Trainingslager an seiner Form arbeitet. „Ich will jetzt noch nicht bei 100 Prozent sein, damit ich es zu den Highlights im Frühjahr sein werde.“ Um diesen Leistungsstand zu erreichen, gibt Luc sein Saisondebüt Ende Januar in Marseille und fliegt dann nach Antalya, wo er 2020 bereits Elfter im Gesamtklassement wurde.
Tom Wirtgen plant mit Paris-Roubaix
Während das Programm von Luc also vorerst steht, herrscht bei seinem Bruder noch etwas Ungewissheit. „Wenn es gut läuft, werde ich schnell wieder eingesetzt, sonst muss Plan B her“, sagt er. Ziel sei es, die Klassiker E3 Saxo Bank Classic (1.UWT/25.3.), die Flandern-Rundfahrt (1.UWT/3.4.) und Paris-Roubaix (1.UWT/17.4.) fahren. „Das Team sagt, dass ich diese Plätze verdient hätte“, sagt Tom. In der Mannschaft genießt er nun einen besonderen Status, immerhin geht er in seine vierte Saison bei der belgischen Mannschaft. „Ich glaube, dass ich in diesem Jahr aufgestiegen bin. Ich soll die Helferrolle später im Rennen übernehmen, das ändert einiges – vielleicht erhalte ich dadurch auch mal eigene Chancen. Ich bin in diesem Jahr dazu bereit, den „Capitaine de route“ zu übernehmen.“
Zwar nehmen die beiden Luxemburger eine unterschiedliche Rolle im Team ein, doch das Vertrauen der Verantwortlichen erhalten sie beide – auch der 23-jährige Luc, der nun in seine dritte Saison bei Bingoal startet. „Ich spüre viel Vertrauen in mich, das macht mir kein Druck. Damit komme ich am besten klar.“ Bei der Mannschaft, die durch ihre neonfarbenen Trikots im Peloton stets auffällt, fühlen sich beide wohl. „Bis auf die Grand Tours haben wir das gleiche Programm wie WorldTour-Teams“, sagt Tom. „Außerdem haben wir hier Freiheiten. Bei der Tour de Luxembourg 2021 hatte ich zum Beispiel freie Fahrt“, fügt Luc hinzu. Im abschließenden Team-Ranking der UCI 2021 belegte das Team den 25. Platz.
Intensive Tage
Seit vergangenem Montag befindet sich das ProTeam in Altea im Trainingslager. Ein Zimmer teilen sich die Wirtgen-Brüder dabei übrigens nicht. Nein, das tun wir nicht immer“, schmunzelt Luc. „Bei Rennen ist das schon öfter der Fall. Hier im Trainingslager wird gemischt – das soll auch der Integration der Neuen dienen.“ Während Tom mit Neuzugang Karl Patrick Lauk aus Estland auf einem Zimmer weilt, ist Luc mit dem Belgier Tom Paquot eingeteilt.
Viel gemeinsame Zeit im Zimmer verbringen die Teamkollegen allerdings nicht miteinander. Um 7.40 Uhr klingelt der Wecker, dann geht es zum Trainer auf die Waage, zum Frühstück und dann für mindestens vier Stunden zum Training. Am Nachmittag steht Regeneration auf dem Plan, ab und an Massage, bevor das Abendessen und die Nachtruhe folgen. „Irgendwo dazwischen müssen wir noch Stretching und verschiedene Übungen einbauen“, sagt Luc. „Ich habe es mal ausgerechnet. Wenn es hochkommt, haben wir am Tag etwa 1:15 Stunden für uns. Die Zeit nutze ich dann, um Netflix zu schauen, damit ich ein wenig runterkomme.“
Bis Dienstag ist die Mannschaft noch in Spanien, wo sie sich das Hotel unter anderem mit Bahrain-Victorious, Arkéa Samsic oder Sport Vlaanderen – Bâloise teilt. Im Hotel treffen viele Fahrer verschiedenster Nationen aufeinander – umso wichtiger ist es, die sanitären Vorschriften zu beachten. Ein positiver Coronatest würde den Saisonbeginn verschieben. „Man sollte aufpassen“, sagt Luc. „Aber man darf sich auch nicht verrückt machen.“
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