Headlines

DeutschlandWeiter Streit um tiefgreifende Wahlreform

Deutschland / Weiter Streit um tiefgreifende Wahlreform
Der deutsche Bundestag: Koalition und Opposition streiten über eine Wahlrechtsreform und damit die künftige Zusammensetzung des deutschen Parlaments Foto: Tobias Schwarz/AFP

Jetzt weiterlesen! !

Für 0.99 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Die sogenannte Venedig-Kommission hat die Kernpunkte der umstrittenen Reform zur Verkleinerung des Bundestages gebilligt. Kritik gab es jedoch am fehlenden Konsens im deutschen Parlament. Bald dürfte der Konflikt zwischen Ampel und Opposition in die nächste Runde gehen.​

Die vom Bundestag per Ampel-Mehrheit beschlossene Wahlrechtsreform ist so tiefgreifend und umstritten, dass das Bundesverfassungsgericht sich mit der Sache beschäftigen muss. Nicht unerheblich für das Verfahren, das mehrere Parteien mit Klagen anstreben, dürfte aber der europäische Blick auf die Änderungen sein. Dazu hat nun die sogenannte Venedig-Kommission Stellung bezogen, die als Einrichtung des Europarates ihre Mitgliedsländer verfassungsrechtlich berät.​

In seiner Beurteilung kommt das Expertengremium zu dem Schluss, dass die in Deutschland angestrebten Änderungen des Wahlgesetzes inhaltlich im Wesentlichen den internationalen Standards entsprechen. So heißt es in dem Papier, dass auch die Art und die geplanten Zeitpunkte für die Anwendung diesen Standards entsprechen. Allerdings merkt die Kommission kritisch an, dass die Unterstützung für dieses Vorhaben nicht auf einem breiten parlamentarischen Konsens fußt – die Ampel-Fraktionen hatten die Reform gegen den Widerstand der Opposition im Bundestag durchgeboxt, nachdem Vermittlungsgespräche gescheitert waren. Diese Kritik hatte auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anklingen lassen.​

Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Sebastian Hartmann, sagte zum Bericht der europäischen Rechtsexperten: „Die Venedig-Kommission bewertet unsere Wahlrechtsreform im Hinblick auf internationale Wahlrechtsgrundsätze positiv.“ Die populistischen Vorwürfe der Opposition seien widerlegt worden. „So konnte die Venedig-Kommission keinen undemokratischen Verstoß gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit erkennen in dem unwahrscheinlichen Fall, dass Kandidierende mit den meisten Erststimmen in einem Wahlkreis aufgrund fehlender Zweitstimmendeckung nicht in den Bundestag einziehen.“ Die Venedig-Kommission habe darüber hinaus festgestellt, dass die Beibehaltung der Grundmandatsklausel der Grundidee eines allein anhand des Zweitstimmenergebnisses zusammengesetzten Parlaments widersprochen hätte.

Hartmann gab unterdessen der Union die Schuld daran, dass es nicht zu einem breiten Konsens gekommen sei. „Ich bin deshalb stolz darauf, dass wir als Koalitionsfraktionen den entscheidenden Schritt gemeinsam gegangen sind, um die Größe des Bundestages auf 630 Mitglieder nachhaltig zu begrenzen“, sagte er.​

Nicht mehr als 630 Sitze

Bei CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt stößt das auf massive Verärgerung. Er geht fest von einem Erfolg bei der Klage gegen das Ampel-Gesetz in Karlsruhe aus. „Dieses Gesetz ist eindeutig verfassungswidrig. Niemandem ist erklärbar, dass Bundestagswahlen stattfinden, die Bürger zur Wahl gehen, es Kandidaten gibt, auch ein Kandidat oder eine Kandidatin den Wahlkreis gewinnt, aber niemand in den Deutschen Bundestag einzieht. Das schafft keine Demokratie-Begeisterung, sondern nur Politikverdrossenheit“, sagte er. Zudem übte Dobrindt Kritik an der Unterzeichnung durch Steinmeier. „Ich glaube, dass von Seiten des Präsidialamts die eigenen Möglichkeiten hier deutlich unterschätzt wurden oder bewusst nicht genutzt worden sind. Ich hätte mir gewünscht, dass der Bundespräsident als oberste Instanz seine Möglichkeiten deutlich stärker gewichtet“, so Dobrindt.​

Das neue Wahlrecht deckelt die Sitzzahl nun bei 630. Gewählt wird weiter mit Erst- und Zweitstimme. Es gibt aber keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr. Überhangmandate entstanden bisher, wenn eine Partei über Direktmandate mehr Sitze im Bundestag gewann als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustanden. Diese durfte sie behalten. Die anderen Parteien erhielten dafür Ausgleichsmandate. Dieses System führte zu einer immer größeren Aufblähung des Bundestags.​

Für die Zahl der Sitze einer Partei ist künftig allein ihr Zweitstimmenergebnis entscheidend. Das kann zur Folge haben, dass erfolgreiche Wahlkreisbewerber ihr Direktmandat nicht bekommen. Auch die Grundmandatsklausel fällt weg. Nach ihr zogen Parteien bisher auch dann in der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag ein, wenn sie unter der Fünf-Prozent-Hürde lagen, aber mindestens drei Direktmandate holten.​