Reicht es für die GroKo? Bei den ersten Konferenzen der SPD-Spitze zeichnet sich eine Tendenz für eine Zustimmung bei dem am Dienstag startenden Mitgliederentscheid ab. Aber es gibt auch Kritik, vor allem, weil Gegner wie Juso-Chef Kühnert nicht eingeladen wurden. Unmittelbar vor dem Start des SPD-Mitgliedervotums ist die Partei in der Wählergunst auf einen neuen historischen Tiefststand abgesackt. Die gut 460.000 SPD-Mitglieder dürften an diesem Samstag eine Sonderausgabe des Parteiorgans „Vorwärts“ im Briefkasten erhalten haben. Ist die Befragung sinnvoll? Oder doch eher kontraproduktiv? Unser Pro und Contra.
Demokratie im Mischsystem
Von unserem Korrespondenten Werner Kolhoff, Berlin (Pro)
Viele ärgern sich, dass nun rund 460.000 SPD-Mitglieder über die Zukunft Deutschlands entscheiden. Dass sie zweimal abstimmen dürfen, während der normale Bürger nur einmal zur Wahl gehen kann. Das ist eine Verdrehung der Tatsachen. Die Sozialdemokraten entscheiden mitnichten über die politischen Machtverhältnisse in Deutschland, sondern nur darüber, was sie selbst wollen. In diesem Fall, ob sie mit der Union regieren wollen. Über die Machtverteilung haben am 24. September 2017 die Bürger entschieden. Sie haben nur zwei Regierungsmöglichkeiten zugelassen: Jamaika oder GroKo. Beide zwingen die beteiligten Parteien nun zu internen Entscheidungen.
Wer darüber empört ist, verkennt entweder den grundsätzlichen Charakter unseres politischen Systems – oder lehnt dieses System ab. Wir leben nicht in einer Direktwahldemokratie, dazu ist Deutschland zu groß. Sondern in einer Parteiendemokratie. Die meisten Abgeordneten zum Beispiel werden, bevor der Bürger sich für sie entscheiden kann, von Parteien nominiert. Es ist zwar prinzipiell möglich, als Einzelkämpfer anzutreten und sich in einem Wahlkreis per Direktwahl durchzusetzen. Aber faktisch aussichtslos. Wir haben ein Mischsystem, das die politischen Debatten ordnen soll. Sonst hätten wir Tausende von Kandidaten, Tausende von Positionen – und kein Wähler würde sich noch zurechtfinden. Nicht ohne Grund hat das Verfassungsgericht Beschwerden gegen die SPD-Urwahl erst gar nicht zur Befassung angenommen. So fern sind sie von der Rechtslage. Die Parteien wirken an der politischen Willensbildung des Volkes mit. So heißt es im Grundgesetz. Jeder kann dort Mitglied werden und mit abstimmen, wenn er die Prinzipien der Partei teilt. In allen Parteien auch Ausländer. Sogar in der AfD.
Die Entscheidung, eine Koalition einzugehen oder nicht, ist eine zentrale politische Frage für jede Partei. Man könnte sie auch einem Parteitag überlassen, wie die CDU das macht. Oder dem Vorstand, wie bei der CSU. Nur ist das weniger repräsentativ als eine Befragung aller Mitglieder. Den Beschluss, Jamaika nicht zu machen, traf übrigens ein einziger Mann: FDP-Chef Christian Lindner. Im Einvernehmen mit seinem Vorstand zwar, aber ohne die Mitglieder zu fragen. Das war sicher nicht besser als das, was jetzt bei den Sozialdemokraten stattfindet.
Der Einwand, die gewählten SPD-Abgeordneten seien frei und müssten das letzte Wort haben, zieht nicht. Denn sie haben weiterhin das letzte Wort. Sie werden bei einem positiven Ausgang des SPD-Entscheids Angela Merkel zur Kanzlerin wählen. Und sie könnten das sogar bei einem negativen Ausgang tun, schließlich wird Merkel auch dann kandidieren, um Neuwahlen möglich zu machen. Nur werden die SPD-Abgeordneten in diesem Fall nicht gegen die Mehrheitsmeinung ihrer eigenen Partei stellen. Aus freier Entscheidung nicht.
Zwei-Klassen-Demokratie
Von unserem Korrespondenten Hagen Strauß, Berlin (Contra)
„Bätschi“ hat Andrea Nahles im Dezember auf dem SPD-Parteitag der Union entgegengeschleudert. „Bätschi“, ohne die Genossen geht nichts. Wohl wahr. Wenn die Mitglieder der SPD nicht Ja zur GroKo sagen, geht auch weiterhin nicht viel voran in diesem Land. Rund 460.000 rote Parteigänger entscheiden ab kommender Woche, ob die Bundesrepublik endlich eine voll handlungsfähige Regierung bekommt. Oder ob weiter der Stillstand regiert. „Bätschi“, liebe Wähler, eure Stimme zählt nicht mehr. Nur noch die der Sozialdemokraten. Das darf nicht sein. Prinzipiell ist gegen mehr innerparteiliche Beteiligung ja nichts einzuwenden; sie ist sogar dringend notwendig, damit die verstaubten Institutionen an Attraktivität gewinnen. Egal, ob sie SPD oder CDU heißen. Aber bitteschön nicht so, dass das Ergebnis einer Bundestagswahl ad absurdum geführt wird. Nichts anderes bedeutet nämlich die SPD-Mitgliederbefragung. Rund 44 Millionen Wähler haben im September letzten Jahres votiert, und herausgekommen ist dabei nicht nur, aber auch die Möglichkeit einer GroKo mit solider Mehrheit. In einer repräsentativen Demokratie ist es nun Aufgabe der gewählten Politiker und Abgeordneten, diese Mehrheit zu bilden und sie funktionsfähig zu gestalten. Aber es ist nicht der Job eines Genossen in Flensburg, Recklinghausen oder Konstanz, nach einer Wahl darüber zu befinden, wie die nächste Regierung aussehen soll und was sie inhaltlich voranbringen muss. Nein, die SPD gönnt sich und ihren Mitgliedern eine zweite, kleine Bundestagswahl. Das ist nichts anderes als praktizierte Zwei-Klassen-Demokratie, sogar eine Entmündigung jener Bürger, die kein rotes Parteibuch besitzen. Allein deshalb, weil einer chaotischen SPD-Führung Autorität und Mumm abhandengekommen sind, das, was sie für richtig hält, auch durchzusetzen. Und wer wirklich mehr Beteiligung will, der müsste konsequenterweise nun nach einer Volksbefragung rufen, ob der Koalitionsvertrag etwas taugt oder nicht. Gleiches Recht für alle. Das will aber niemand – weil es genauso absurd wäre.
Außerdem liegt doch auf der Hand: Viele Genossen werden das 177 Seiten starke Werk gar nicht lesen, sondern vor allem über die desolate Performance ihrer Führung befinden. Zumindest jene, die nicht wahrhaben wollen, dass ein Nein zur GroKo noch mehr Chaos anrichten würde, und zwar nicht nur in der eigenen Partei. Die Genossen entscheiden nämlich auch darüber, ob es zu vorgezogenen Neuwahlen kommt – das obliegt aber am Ende einzig und allein dem Bundespräsidenten. So sieht es das Grundgesetz vor. Und was ist überhaupt mit den Anhängern der Union? Zählen die nicht mehr? Mehr Menschen haben die Merkel-Partei gewählt, trotz erheblicher Verluste. Auch sie sind durch die Mitgliederbefragung in politische Geiselhaft genommen worden, nicht nur die Kanzlerin. Andrea Nahles würde dazu nur sagen: „Bätschi“.
Die Wähler haben eben NICHT eine "weiter-so"-Groko gewählt, sondern die beiden Parteien haben mächtig Federn lassen müssen. Was sich hier anbahnt, ist eine Koalition der Verlierer, weil Merkel unbedingt noch weitere 4 Jahre Kanzlerin bleiben will.