Nur selten werden Reisende und Touristen Zeugen von Ritualen der indigenen Bevölkerung Guatemalas, da diese sich oft in abgelegenen Regionen abspielen, die in der Regel vom touristischen Alltag abgekoppelt und schwer zu erreichen sind. Unsere Kulturjournalistin hatte jedoch das große Glück, gleich zwei Ritualen beiwohnen und sie in Bildern und Wörtern festhalten zu dürfen.
Seit der Verfassung von 1985 bezeichnet sich Guatemala als multiethnisch, plurikulturell und mehrsprachig. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung im zentralamerikanischen 16-Millionen-Einwohnerstaat ist indigen. Damit verzeichnet Guatemala eine der höchsten Raten diesbezüglich in gesamt Lateinamerika und bietet sogar ganzen Departements Raum, die ausschließlich Mitglieder indigener Bevölkerungsgruppen beherbergen. Guatemaltekische Urvölker dürfen indes keineswegs als homogener Verbund von Menschen angesehen werden. Allein schon die Nachfahren der Maya sind in 22 ethnische Gemeinschaften unterteilt und es werden mindestens ebenso viele indigene Sprachen im Land gesprochen. Sowohl die Kosmovision als auch die Spiritualität können sich von Gruppe zu Gruppe unterscheiden. Durch äußere Einflüsse, also beispielsweise die Kolonisation oder die Präsenz von mehreren indigenen Bevölkerungsgruppen in einer Region, kam es zwar vielerorts zu Transkulturationsprozessen, aber es konnten auch einzigartige alte Traditionen erhalten bleiben.
Die sogenannten „Kekchí“, deren Sprache die gleiche Bezeichnung trägt, stellen die viertgrößte indigene Bevölkerungsgruppe in Guatemala dar. Sie leben hauptsächlich in den Departements Alta und Baja Verapaz im Norden des Landes, wo sie bis heute nicht nur geografisch, sondern auch sozial gesehen teils stark isoliert ihr einfaches Leben fristen. Manche Forscher gehen davon aus, dass unter anderem diese Umstände ein Konservieren ihrer Kultur ermöglichten. Diese Ethnie ist mehrheitlich in der Landwirtschaft tätig, die auch im religiösen Kontext eine wesentliche Rolle spielt. Die Zuwendung zur Erde besitzt bei den Kekchí einen sakralen Charakter, da sie als Lebensspenderin verstanden wird. Der Natur kommt auf der Ebene des Selbstverständnisses große Wichtigkeit zu, denn sie wirkt einerseits identitätsstiftend und andererseits ist in ihr ein starkes Zugehörigkeitsgefühl verankert.
Ein ruhiges Leben im Einklang mit seinem natürlichen Umfeld war dem Volk in den vergangenen 500 Jahren häufig nicht vergönnt, da dieser lange Zeitraum von Enteignungen geprägt war, die bis heute nicht vollends abklingen wollen. Zudem kommt es zusehends zu Eingriffen in die Natur durch große multinationale Unternehmen. Diese widersprechen jedoch der Spiritualität der Kekchí. Denn wer in die Natur eingreift, sei es durch Säen, Ernten oder auch durch den Bau eines Hauses, der muss dies im Einvernehmen mit Tzuultaqa, dem spirituellen Wächter über Berge, Täler und Gewässer, tun. Dieser wird durch bestimmte rituelle Vorgänge um Erlaubnis gebeten, Änderungen vornehmen zu dürfen. Seine Antwort erfolgt durch Regen, Stürme, Wind oder Geräusche von bestimmten Tieren. Die Missachtung der strengen Regeln kann zu Krankheit, Naturkatastrophen oder Missernten führen, so die Annahme der Bevölkerung.
Gelebter Respekt
Mitte März wurden im nördlich gelegenen Santa María Cahabón Riten durchgeführt, die eine essenzielle Rolle in der Kekchí-Kultur spielen. Grund hierfür war der geplante Bau eines „Hauses der Gabe“ (für gemeinschaftliche religiöse Feste und die Durchführung von Zeremonien). Im Voraus wurde von der dortigen indigenen Gemeinschaft Geld bei den Bewohnern und Bewohnerinnen der Region gesammelt. Ein nicht unwesentlicher Anteil der erforderlichen Summe stammt zudem aus dem Großherzogtum. Eine durchaus spannende Tatsache, denn mit Adveniat Luxemburg hat in diesem Fall ein katholisches Hilfswerk ein interreligiöses Projekt mitfinanziert.
Dem Bau des Gebäudes müssen zwei unterschiedliche, aber zusammenhängende Rituale vorausgehen. An erster Stelle steht das „Mayejak“, was „Opfer“ bedeutet. Dieses findet vor allem vor dem Säen sowie dem Ernten Anwendung, also zweimal im Jahr, kann jedoch auch je nach Bedarf punktuell eingesetzt werden. Hier wird eine Vorbereitungszeit von etwa vier Wochen erforderlich, die sich auf vielen verschiedenen Ebenen abspielt. Erst dann kann das sogenannte „Watesink“ folgen, also ein Ritual, das in der Regel der Einweihung eines Hauses, einer Kirche oder eines Felds vorausgeht und einen Schaffensakt zelebriert. Interessanterweise wurde diese alte Tradition ebenfalls modernen Gegebenheiten angepasst und kommt mittlerweile auch zum Einsatz, wenn ein neues Auto oder ein Motorrad gesegnet werden soll.
Das Opfer wird während eines christlichen Wortgottesdiensts in einem Haus, auf einer Art Altar, der auf dem Boden angebracht ist, erbracht. Hier machen sich synkretische Züge bemerkbar, da die Volksfrömmigkeit der Kekchí auch Spuren von katholischer Tradition aufweist. Der Altar repräsentiert die vier Himmelsrichtungen und somit die Schöpfung. Dort werden Huhn, Kakao und Tortilla abgelegt. Nicht fehlen dürfen hierbei Kerzen sowie Kopal Pom; ein wohlriechendes Harz, das ähnlich wie Weihrauch auf Kohlen verbrannt wird. Die Kerzen wurden zuvor im Rahmen eines eigens dafür anberaumten Rituals eigenhändig gezogen. Man bezeichnet sie als „Kuut“, was so viel wie „Stütze“ bedeutet. Diese, nennen wir es mal „Hilfestellung“, soll ein sicheres Voranschreiten im Leben gewährleisten. Beide Gegenstände werden mit Kakao sowie dem Blut eines rituell geschlachteten Tieres, in der Regel dem des heimischen Truthahns, eingerieben.
Wer bei diesem Teil der Zeremonie dabei sein darf, sieht sich einem Detailreichtum gegenüber, das kaum mit einem Blick erfasst werden kann. Jedes ach so kleine Element hat seinen Platz und seine Funktion im großen Gesamtgefüge. Außerdem beeindruckt das menschliche Zusammenspiel, während dem sowohl gemeinsam geschwiegen wie auch gebetet wird. Männer und Frauen vollziehen hochkonzentriert, nacheinander, häufig mit geschlossenen Augen, ihre ganz eigene Choreografie.
Das erste Abendmahl
Nachdem dieser erste feierliche Schritt getan ist, folgt draußen, dort, wo (in diesem Fall) das Gebäude gebaut werden soll, das, was man gemeinhin als „Watesink“ bezeichnet. Die wortwörtliche Übersetzung lautet „zu essen geben“. Man lädt Tzuultaqa zum Essen ein, um ihn dem Projekt wohlgesinnt zu stimmen. In Santa María Cahabón stiegen zu diesem Anlass ausschließlich die Männer der Gemeinschaft auf die Ladefläche eines Lastwagens, der dann (doch etwas überladen) zum Ort des Geschehens fuhr. Die Frauen blieben zurück, um das den Abend abschließende Mahl vorzubereiten. Auf dem Gefährt, das den holprigen Straßen standhalten musste, hielt man sich aneinander fest, bis das Ziel erreicht war. Danach schwärmten kleine Gruppen in die Dunkelheit hinaus. Durch die gezückten Taschenlampen glaubte man, gut koordinierte Schwärme von riesigen Glühwürmchen vor sich zu haben. Ein Teil der zuvor auf dem Altar geopferten Gaben wurde dann in den vier Himmelsrichtungen rund um das zu bauende Gebäude vergraben, das Mahl wurde also gewissermaßen angerichtet.
Der Höhepunkt beim „Watesink“ wird zu jenem Moment erreicht, in dem der oder die Ältesten wieder an einem zentralen Punkt versammelt Kerzen hochhalten. Diese Personen sind moralische Instanzen in den Gemeinschaften, die nicht zwingend alterstechnisch zu den Betagtesten gehören und auch nicht ernannt werden. Vielmehr entwickelt sich ihr Status innerhalb des sozialen Gefüges. Das Licht der Kerze steht für die Sonne, die Licht und Leben spendet. Hier haben wir es mit einem zentralen Element der Kosmovision der Maya zu tun.
Wie zuvor erwähnt, kommuniziert Tzuultaqa unter anderem über das Wetter mit den Menschen. Nun sei jedem selbst überlassen, ob er oder sie dies glaubt oder nicht, aber in Cahabón fing es tatsächlich auf die Sekunde genau in dem Moment an zu regnen, als alle Gaben im Boden verscharrt waren und es hörte langsam auf, als die Kerzen anschließend alle brannten. Zum Abschluss kehrte die gesamte Belegschaft in ein Gemeinschaftshaus zurück und verzehrte gemeinsam die rituell zubereiteten Speisen. Tzuultaqa nimmt stets symbolisch an diesem speziellen Mahl teil. Ich kann nur hoffen, dass es ihm so gut geschmeckt hat wie mir.
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