Als im Mai dieses Jahres die Zahl der in Italien ankommenden Bootsflüchtlinge leicht zurückging, feierte die rechtsextreme Regierungschefin Giorgia Meloni dies als einen großen Erfolg ihrer Migrationspolitik. Abschottung der Häfen und Abgrenzung neuer Migranten ist das Motto Roms. Eine Politik, in der die postfaschistischen Fratelli d’Italia (FdI) mit Matteo Salvinis Lega übereinstimmen. Der Lega-Chef hatte dies bereits in seiner Funktion als Innenminister betont. Und war damals wie heute als Vizepremier gescheitert: Denn nicht die Politik hatte die Entscheidung über geringere Flüchtlingszahlen getroffen, sondern die lang anhaltenden und mit ausgiebigen Stürmen und Regenfällen verbundenen Tiefs über Italien. Das Mittelmeer war über Wochen für kleine Fischkutter und Schlauchboote schier unpassierbar. Wer es dennoch wagte, musste die Reise wie jüngst vor Griechenland mit dem Leben bezahlen.
Doch kaum ist der Mai vorüber, steigen die täglichen Anlandungen wieder stetig. Die frühere Innenministerin Luciana Lamorgese, Verwalterin genauer Statistiken, erklärte, in den ersten fünf Monaten des Jahres 2023 sei die Höchstzahl von Migranten seit dem Vergleichszeitraum von 2017 verzeichnet worden. Weder die damaligen Bemühungen der Regierung Paolo Gentilonis noch die drastischen – und rechtswidrigen – Maßnahmen des Innenministers Salvini 2019 hatten die Flüchtlingsbewegungen eindämmen können. Und auch sein Nach-Nachfolger Matteo Piantedosi, unter Salvini bereits dessen Kabinettschef, kann keine Erfolge im Eindämmen der Migrationsströme nachweisen.
Um nur einige Vergleichszahlen zu nennen: Im März 2023 erreichten 13.267 Personen die italienische Küste, ein Jahr zuvor waren es nur 1.300. Im April standen 14.507 Ankömmlinge einer Zahl von 3.929 des Vorjahresmonats gegenüber. Und die „Positivmeldung“ vom Mai ist nur eine relative: Zwar kamen 2022 8.720 Bootsflüchtlinge an den italienischen Küsten an, doch waren es in diesem Jahr bei ausgemacht schlechtem Wetter immer noch 8.154 Menschen, die die gefährliche Überfahrt wagten. Bis zum 15. Juni verzeichnete das Innenministerium die Ankunft von 55.662 Menschen, eine Zahl, die jene der Anlandungen im vergangenen Jahr um mehr als die Hälfte übersteigt. Wie fehlgeschlagen die betriebene Abschottungspolitik ist, zeigt sich auch daran, dass nur ein Zehntel der Migranten mit Rettungsschiffen der NGOs, gegen die die italienische Politik schärfstens vorging, ins Belpaese kamen.
Tunesien als neuer Hotspot
Kamen die Flüchtlinge in den vergangenen Jahren zu einem großen Teil aus libyschen Häfen, so hat sich in diesem Jahr immer mehr Tunesien als neuer Ausgangspunkt herauskristallisiert. Laut Angaben des italienischen Innenministeriums kamen in den ersten fünf Monaten siebenmal mehr Migranten, vor allem Menschen aus dem subsaharischen Afrika, über Tunesien ins Land als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Wie Augenzeugen vor Ort berichten, liegen gerade dieser Tage 30 Fischkutter im Hafen von Sfax, um wahrscheinlich überladen die gefährliche Reise über das Mittelmeer zu starten. Knapp 190 Kilometer liegen vor den Schiffen, eine Entfernung, die deutlich geringer ist als die von den Ausgangsorten in Libyen. Eine Reise indes, die keineswegs von weniger Gefahren geprägt ist, zunehmend auch geschaffen von der immer aggressiver agierenden tunesischen Küstenwache. Die wurde und wird derzeit auch mit EU-Mitteln finanziert.
Dies ist die Kehrseite der Besuche von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni oder den deutschen und französischen Innenministern Nancy Faeser und Gérald Darmanin. Sowohl die EU als auch die wohlhabenden westeuropäischen Staaten versprechen der nordafrikanischen Republik finanzielle und materielle Unterstützung, sollte sich Tunesien bereit erklären, unerwünschte Migranten zurückzunehmen – oder besser gar nicht erst in See stechen zu lassen.
Was nördlich des Mittelmeers dabei außer Acht gelassen wird, ist die Tatsache, dass der tunesische Präsident Kais Sayed zunehmend autoritär regiert und die in Tunesien ankommenden afrikanischen Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Zuständen in Lagern gehalten werden. Dass solche Bedingungen nur allzu leicht zur Weiterflucht auch über die gefährliche Mittelmeerroute animieren, wird bei den Politikerbesuchen offensichtlich nicht in Betracht gezogen. Und so werden in den kommenden Sommermonaten die Flüchtlingszahlen erneut weiter steigen.
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