Von unserem Korrespondenten Hagen Strauß
Grünen-Chef Cem Özdemir rechnet mit dem Zustandekommen der großen Koalition aus Union und SPD. Falls jedoch nicht, stehe seine Partei zu neuen Gesprächen bereit, so Özdemir in unserem Interview.
Tageblatt: Herr Özdemir, Union und SPD sind zuversichtlich in die Sondierungen gestartet. Ist dieser Optimismus berechtigt?
Cem Özdemir: Ich rechne damit, dass es zu einer großen Koalition kommt. Auch wenn ich von dieser Konstellation – wie Sie sich vorstellen können – nicht allzu viel erwarte. Ich befürchte weitere Jahre politischer Lähmung. Aber der Druck ist groß. Deswegen ist die große Koalition wohl unvermeidlich.
Was muss eine mögliche GroKo unbedingt anpacken?
Ganz klar den Klimaschutz. Darüber hinaus: Es muss jetzt um die Vergessenen der letzten großen Koalition gehen. Das sind zum Beispiel die Pflegebedürftigen, deren Zahl in den letzten zwei Jahren um fast neun Prozent gestiegen ist. Das sind die Pfleger, von denen wir mehr brauchen und die angemessen bezahlt werden müssen. Bis 2025 rechnet man allein in diesem Bereich mit 214.000 offenen Stellen. Eine neue GroKo muss aber auch ansetzen bei der Entkopplung von Herkunft und Bildungserfolg. Und außerdem für bezahlbares Wohnen in den Städten sorgen.
In der Zuwanderungspolitik gibt sich vor allem die CSU hart. Wie sollte die SPD darauf reagieren?
Es ist ja aller Ehren wert, dass sich die SPD jetzt um den Familiennachzug kümmert, wo sie doch in der letzten GroKo die Aussetzung mitbeschlossen hat. Am Ende wird es in dieser Frage vermutlich einen Kompromiss geben. Aber ich wundere mich, wie wenig das Thema Integration bisher eine Rolle spielt. Die unlängst veröffentlichte Studie zur Kriminalität unter Flüchtlingen zeigt doch, dass wir uns mit Blick auf jene, die auf Dauer eine Bleibeperspektive haben, dringend dieser Frage widmen müssen. Dieses Thema darf uns nicht entgleiten.
Was, wenn die große Koalition nicht zustande kommt – stehen die Grünen dann wieder für Jamaika-Gespräche bereit?
Das ist eine theoretische Frage. Weil die FDP nach wie vor in der Fundi-Ecke hockt.
Trotzdem würde sie sich dann stellen.
Wir stehen bereit, neue Gespräche zu führen, denn bei uns heißt es – anders als bei der FDP-Spitze – erst das Land, dann die Partei. Klar ist aber auch, uns gibt es nicht zum Nulltarif. Wir würden in keine Regierung eintreten, in der nicht der Klima- und der Umweltschutz angemessen vorangetrieben werden. Derzeit erleben wir doch, dass bei den Gesprächen über eine GroKo diese hinten runterzufallen drohen. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass die SPD plötzlich das Thema Glyphosat für sich entdeckt hat. Unser Planet erhitzt sich viel schneller als befürchtet und der Giftmitteleinsatz in der Landwirtschaft bringt unsere heimischen Ökosysteme an den Rand des Kollapses. Das ist eine Frage von historischer Bedeutung.
Gilt ihre Gesprächsbereitschaft auch für eine Minderheitsregierung?
Ja, wenn wir einen Unterschied beim Klimaschutz machen können.
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