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Die Spitzenkandidaten aufzugeben, wäre ein Rückschlag

Die Spitzenkandidaten aufzugeben, wäre ein Rückschlag

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In Brüssel treffen sich heute 27 EU-Staats- und Regierungschefs – ohne die britische Kollegin – zu einem informellen Gipfeltreffen. Dabei stehen insbesondere institutionelle Fragen wie die Einführung einer transnationalen Liste oder die Beibehaltung der Spitzenkandidaten bei den Europawahlen im kommenden Jahr sowie erste Gespräche über die mehrjährige Budgetplanung im Mittelpunkt. Wir sprachen mit dem luxemburgischen Premier Xavier Bettel.

Tageblatt: Sie fragten jüngst in einer Twitter-Botschaft, warum Spitzenkandidaten aufgestellt werden sollen, wenn es keine transnationalen Listen bei den Europawahlen gibt. Was soll man daraus schlussfolgern: Dass Sie bei den nächsten Europawahlen für die Einführung von transnationalen Listen sind? Oder dass Sie, wenn es zu keinen transnationalen Wahllisten kommen sollte, auch das System des Spitzenkandidaten ablehnen?

Xavier Bettel: Wir hatten bei den Europawahlen 2014 erstmals die Spitzenkandidaten. Jetzt zu erklären, dass es die bei den Wahlen 2019 nicht mehr geben wird, wäre ein Rückschlag. Der erste Schritt mit einer indirekten Beteiligung der Wähler bei der Besetzung eines Top-Postens wurde getan.

Meiner Ansicht nach aber haben wir 2014 mit den Spitzenkandidaten am Ende begonnen, wobei die Spitzenkandidaten vielmehr das Ergebnis von transnationalen Listen sein sollten. Machen wir transnationale Listen, brauchen wir auch Spitzenkandidaten. Das bedeutet, beide sind eng miteinander verbunden.

Jetzt will ich aber keinen institutionellen Konflikt mit dem Europaparlament, da dieses die transnationalen Listen abgelehnt hat. Wir, die EU-Staats- und Regierungschefs, können daher nicht sagen, wir wollten diese Listen. Zeitlich geht es ohnehin nicht mehr, da die Europawahlen in rund einem Jahr stattfinden und die nationalen Gesetzgebungen geändert werden müssten. Ich wäre aber froh, wenn wir bei den Wahlen 2024 sowohl die transnationale Liste als auch die Spitzenkandidaten hätten. Und selbstverständlich weiterhin auch die nationalen Listen.

Die transnationalen Listen sollte auch die Spitzenkandidaten enthalten, damit man sie wählen kann. 2014 hatten wir die drollige Situation, dass wir einen Spitzenkandidaten hatten, der nirgendwo Kandidat war.

Das bedeutet, Sie wollen die Idee der transnationalen Listen nicht fallen lassen?

Für die Wahlen 2019 bekommen wir das nicht mehr hin. Für 2024 hingegen sollte man es meiner Ansicht nach tun.

Das Europäische Parlament hat bereits deutlich gemacht, keinen Kandidaten zum Kommissionspräsidenten wählen zu wollen, der nicht als Spitzenkandidat angetreten ist. Sind den EU-Staats- und Regierungschefs damit nicht die Hände gebunden?

Ich sehe da ein Problem in Sachen Kompetenzen, auch hinsichtlich der Verträge. Das Europaparlament schränkt die Auswahl ein. Die unterschiedlichen Parteien entscheiden auf ihren Kongressen, wer Spitzenkandidat ist, und es soll dann keine andere Wahl geben. Meines Erachtens soll jedoch der beste Kandidat Präsident der Kommission werden. Es sollte nicht bereits im Vorfeld festgelegt werden, unter welchen Kandidaten ausgewählt werden soll. Das ist nicht das Ziel. Man sollte sich nicht darauf fokussieren, dass es einer der Spitzenkandidaten sein muss.

Sollte Ihre politische Parteienfamilie denn einen Spitzenkandidaten nominieren oder nicht?

Selbstverständlich sollte meine politische Familie ebenfalls einen Spitzenkandidaten für die nächsten Europawahlen aufstellen. Ich habe angeregt, dass die liberalen Regierungschefs in der EU sich am Freitagmorgen treffen und einen Austausch dazu führen.

Wie anders könnten die Europawahlen attraktiver gestaltet werden, um die seit Jahren geringer werdende Wahlbeteiligung aufzuhalten oder gar umzukehren?

Indem wir zeigen, dass Europa etwas ist, was den Bürger täglich betrifft. Im Grunde ist es traurig, wie die letzte Eurobarometer-Umfrage gezeigt hat, dass Europa noch nie derart populär war als nach der Brexit-Entscheidung. Ich sagte einmal provokativ: An dem Tag, an dem es Europa nicht mehr gibt, würden wir feststellen, wie viel es uns bringt. Transnationale Listen und Spitzenkandidaten können die Attraktivität und Wichtigkeit der Europawahlen verbessern. Verschiedene Leute haben die Tendenz, zu sagen, Brüssel habe an allem schuld. Es wird nie gesagt, „Dank Brüssel haben wir“, sondern „Brüssel ist schuld“. Wir müssten in verschiedenen Ländern aufhören, solche Diskurse zu führen.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat vorgeschlagen, die beiden Präsidentenposten – des Europäischen Rates und der Kommission – zu vereinen. Was halten Sie davon?

Ich finde das keine gute Idee. Das sind verschiedene Posten. Der eine betrifft die intergouvernementale Ebene, der andere die gemeinschaftliche mit der Kommission. Der Präsident des Europäischen Rates vertritt nach außen die Position der 27 Staats- und Regierungschefs. Der andere ist der Chef der Exekutive in Brüssel. Manchmal sind die Positionen der beiden, ich will nicht sagen konfliktuell, aber auch nicht die gleichen.

Zum EU-Budget: Sollte Luxemburg, ebenso wie Deutschland angekündigt hat, seinen Beitrag für den EU-Haushalt erhöhen?

Ich will den Beitrag nicht um des Erhöhen willen erhöhen, nur weil Großbritannien ausscheidet. Wir brauchen einen Schutz an den Außengrenzen, der funktioniert, die Bekämpfung des Klimawandels muss verbessert werden, wir wollen Erasmus ausweiten und den Kulturaustausch fördern. Ees darf aber nichts kosten, oder? Wenn wir das ernsthaft angehen wollen, kostet es.

Schwierig wird es, auf der Ausgabenseite zu schauen, ob verschiedene Ausgaben noch opportun sind oder modernisiert werden müssen. Es muss darüber diskutiert werden, was effizient ist, was verbessert, wo gespart werden kann. Erst dann, kann ich mir vorstellen, sind auch wir bereit, etwas mehr in den Topf zu geben. Wenn wir wissen, dass es gebraucht wird, um das tägliche Leben zu verbessern. Ich bin aber nicht damit einverstanden, die 15 bis 17 Milliarden Euro, die mit dem Austritt Großbritanniens wegfallen, zu kompensieren, wenn sich nichts ändert. Das geht nicht.

EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger will mehr Geld für das EU-Budget. Anstatt 1,0 Prozent will er 1,1 bis 1,2 Prozent des EU-BIP, da es sonst nicht mehr ausreicht, um alles zu finanzieren. Was sagen Sie dazu?

Wenn es darum geht, eine europäische Steuer einzuführen, weiß ich nicht, ob das eine gute Idee ist. Ich bin kein großer Freund neuer Steuern. Ich will verhindern, dass Europa weniger attraktiv wird als andere.

Wir müssen aufhören, zu meinen, dass die Leute nicht darauf achten, wo Steuern zu zahlen sind. Wenn wir morgen eine Finanztransaktionssteuer in Europa haben und London hat keine, dann sind die Banken, über die wir froh sind, dass sie in Luxemburg sind, morgen wieder weg. Europa sollte nicht alleine gehen. Denn die USA sind dabei, Maßnahmen zu ergreifen, um Unternehmen anzuziehen.

Allerdings sollten wir nicht in die Falle des Steuerdumpings tappen. Wir müssen das richtige Gleichgewicht finden. Ich will aber auch, dass Europa weiterhin wettbewerbsfähig bleibt im Vergleich zu anderen Ländern in der Welt.

Welche Prioritäten sollen mit dem neuen mehrjährigen EU-Haushalt gesetzt werden?

Wir müssen auf die Erwartungen der Bürger Antworten geben. Die innere Sicherheit bereitet ihnen Sorge, aber auch Bildung, eine Wirtschaft, die sich weiterentwickeln kann, sowie Arbeitsplätze schaffen. Das sind die Bereiche, die wichtig sind. Ich will aber nicht sagen, was wichtiger ist, da ich damit gleichzeitig sage, dass andere Dinge weniger wichtig sind. Und das will ich zu diesem Zeitpunkt nicht.

Was halten Sie von der Idee, EU-Staaten, die von der Einhaltung europäischer Grundwerte und -prinzipien abweichen, über das Budget finanziell zu benachteiligen oder zu bestrafen?

Wenn es darum geht, dass ein Staat weniger Geld bekommt für Erasmus oder die Landwirtschaft, wer ist dann als erster betroffen? Der Student, der Landwirt, nicht der Staat. Will ich, dass der Einwohner aus dem betroffenen Land auch noch Hass gegen Europa entwickelt? Ich denke, es gibt andere Mechanismen, wie etwa den Stimmrechtsentzug im Rat.

Es wird an Vorschlägen gearbeitet. Sollte aber dabei herauskommen, dass der Landwirt, der Student oder der Forscher bestraft wird, da ihnen die Mittel entzogen werden, dann ist es nicht das, was ich mir vorstelle. Denn es geht eigentlich darum, die Politik zu bestrafen.