Nach den aktuellen Umfragen unterscheidet sich der Wählerwille kaum vom Ergebnis der letzten Bundestagswahl im September. Der Berliner Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer geht jedoch von größeren Verschiebungen in den kommenden Wochen aus. Nach dem Scheitern von «Jamaika» würden die Karten neu gemischt, erklärte Niedermayer im Gespräch mit unserem Korrespondenten Stefan Vetter.
Von unserem Korrespondenten Stefan Vetter, Berlin
Tageblatt: Herr Niedermayer, warum könnte jetzt Bewegung ins Wählerverhalten kommen?
Oskar Niedermayer: Weil die Umfragen, die es bis zum Montag dieser Woche gegeben hat, jetzt praktisch Makulatur sind. Ihnen lagen ganz andere politische Voraussetzungen zugrunde als jetzt mit dem Scheitern von Jamaika. Die Bundesbürger sind mittlerweile relativ flexibel in ihrem Wahlverhalten. Entscheidend wird sein, wer die Deutungshoheit über den Schuldigen an möglichen Neuwahlen gewinnt. Momentan hat hier die FDP klar den Schwarzen Peter. Aber auch das kann sich noch ändern. Insbesondere dann, wenn sich die Debatte auf die Verweigerung der SPD für eine große Koalition verlagern sollte.
Aber wird die Schuldfrage nicht schon bald vergessen sein?
Die anderen Parteien, insbesondere Union und Grüne, werden bei einer möglichen Neuauflage des Wahlkampfs garantiert die Schuldfrage wachhalten. Eine bessere Steilvorlage gibt es für sie kaum.
Erwarten Sie auch eine inhaltliche Neuausrichtungen der Parteien, sollte es tatsächlich zu Neuwahlen kommen?
Ja. Die Parteien werden sich neu aufstellen. Zum Beispiel hat die Union bei dem immer noch wichtigsten Thema für die Deutschen, nämlich der Flüchtlingsfrage, jetzt eine einheitliche Linie zu einer Obergrenze. Diese Geschlossenheit von CDU und CSU ist jetzt deutlich stärker als vor der Wahl. Das könnte der Union neue Sympathien auch bei Wählern eintragen, die sich noch im September für die AfD entschieden haben. Denn eine klare politische Haltung wird in aller Regel stärker vom Wähler honoriert als ständiger parteiinterner Streit.
Und die anderen Parteien?
Auch die SPD muss sich zu dem Komplex Flüchtlinge, Islam und Terror verhalten. Und sie muss sich fragen, ob sie noch einmal mit Martin Schulz antreten will. Denn Schulz ist mit dem Manko des größten Wahlverlierers in der Nachkriegsgeschichte der Partei behaftet.
Allerdings wäre es auch denkbar schwierig für die SPD, auf die Schnelle einen neuen Kanzlerkandidaten im Bewusstsein der Wähler zu verankern. Da steckt die SPD tief im Dilemma. Auch den Grünen stünde übrigens noch eine spannende Kursbestimmung ins Haus. Vom linken Flügel gibt es ja bereits die Ansage, Schluss mit Kompromissen, jetzt vertreten wir wieder die reine Lehre.
Es ist also kein Naturgesetz, dass eine Neuwahl doch wieder nur auf eine «Jamaika»-Konstellation hinauslaufen würde?
Richtig, es könnte auch wieder für eine Zweierkonstellation reichen. Schwarz-Gelb zum Beispiel war schon im September nicht gar so weit von einer Mehrheit entfernt. Zwei Prozent mehr, und wir hätten die ganze Aufregung der letzten Tage und Wochen nicht gehabt. Insofern werden die Karten jetzt tatsächlich neu gemischt.
Zum Autor
Stefan Vetter, Korrespondent im Berliner Büro, wurde 1960 in Sachsen geboren und studierte Journalistik in Leipzig. Ab 1993 berichtete er zunächst für die «Saarbrücker Zeitung» und die «Lausitzer Rundschau» als Parlamentskorrespondent über den politischen Alltag im Bonner Regierungsviertel. Später kamen weitere Regionalzeitungen für die Berichterstattung hinzu. Mit dem Umzug der Bundesregierung an die Spree setzte er diese Arbeit in Berlin fort. Inzwischen kümmert sich Stefan Vetter vornehmlich um arbeitsmarkt- und sozialpolitische Themen, aber auch um Vorgänge bei SPD, Grünen und Linkspartei.
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