Er ist mit Blick auf das Schweizer Mediensystem der führende Experte, selbst die deutschen Tagesthemen kommen nicht an ihm vorbei: Prof. Dr. Manuel Puppis von der Uni Fribourg (CH). In unserem zweiteiligen Interview beschreibt er, wieso die Schweizer am Sonntag einen folgenschweren Fehler beim Referendum über die Gebühren für TV und Radio begehen könnten.
Von Dhiraj Sabharwal
(Den ersten Teil des Interviews finden Sie hier.)
Tageblatt: Die «No Billag»-Initiative und das daran gekoppelte Referendum von Sonntag zielen darauf ab, die Radio- und Fernsehgebühren (Billag-Gebühren) abzuschaffen. Wird eigentlich über die Qualität des «Service public» diskutiert? Das Jahrbuch «Qualität der Medien» des Zürcher Forschungsinstituts «Öffentlichkeit und Gesellschaft» (fög) sorgt ja meist für Gesprächsstoff.
Manuel Puppis: Ich habe die letzten Zahlen des fög nicht vor Augen. Aber die öffentlich-rechtlichen Medien der SRG SSR schneiden bei den fög-Qualitätsmessungen immer gut und im Vergleich zu privaten Medien besser ab. Die öffentlich-rechtlichen Radiosender liegen knapp vor den öffentlich-rechtlichen TV-Sendern. Verschiedene Zeitungen schneiden bei Qualitätsmessungen ebenfalls sehr gut ab.
Welche Rolle spielen die Messungen des Schweizer Bundesamts für Kommunikation (Bakom)?
Das Bakom führt alle zwei Jahre Erhebungen durch. Die Zufriedenheit der Bevölkerung ist mit Blick auf das öffentlich-rechtliche Medienangebot im Vergleich zu privaten Medien größer. Auch die Qualität wird höher eingeschätzt. Dennoch gibt es anhaltende Diskussionen über einzelne Sendungen. Das ist auch richtig so. Es braucht eine Debatte rund um die Leistung des Service public. Was soll er tun und was nicht?
Wie können Schweizer Bürger eigentlich ihrer Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk Gehör verschaffen?
Die SRG ist als Verein organisiert. Es gibt Publikumsräte, die sich einzelner Sendungen annehmen und sie sich anschauen oder -hören. Es gibt auch einen Ombudsmann, der Beschwerden annimmt. Er behandelt und diskutiert sie ausführlich. All dies wird öffentlich gemacht.
Welche Rolle spielte der öffentlich-rechtliche Rundfunk in der Schweizer Politik in den letzten Jahren?
In den letzten Jahren hat die «Eidgenössische Medienkommission» EMEK als Beratungsgremium des Bundes und des Bundesrates, also der Regierung, Berichte zum Service public vorgelegt. Es fanden von Anfang an Anhörungen statt, es gab diverse Parlamentsdebatten zum Service public. Die Diskussion wird auch bei einem hoffentlichen Nein zu dieser Initiative weitergehen. Im Frühsommer soll das neue Mediengesetz in die Vernehmlassung (eine Phase des Gesetzgebungsverfahrens in der Schweiz, Anm. d. Red.) gehen.
Worauf liegt der Schwerpunkt?
Es wird um die Fragen gehen, was die SRG im Werbebereich und online darf. Braucht es Medienförderung für Privatsender, damit sie überleben können? Ich hoffe, die medienpolitischen Diskussionen werden konstruktiver. Es braucht keine absurde Diskussion über die Notwendigkeit von Gebühren für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Wie verlaufen die Konzessionsverhandlungen?
Momentan ist eine neue Konzession für die SRG in öffentlicher Anhörung. Unabhängig davon, ob die «No Billag»-Abstimmung am Sonntag positiv oder negativ ausfällt, geht die Arbeit daran weiter. Die neue Konzession ist als Reaktion auf die Berichte vom EMEK und Bundesrat zum Service public zu verstehen. Es ist beispielsweise vorgesehen, dass die SRG künftig mindestens 50 Prozent ihres Budgets in Information investiert und dass sie sich bei Unterhaltung klar von privaten Anbietern unterscheiden muss.
Wie werden diese Ansprüche gemessen?
Es spielen tatsächlich aus der Wissenschaft abgeleitete Qualitätskriterien wie Vielfalt, Relevanz, Aktualität und so weiter eine Rolle, um messen zu können, ob das Angebot den Ansprüchen entspricht, die man an den Service public hat. Man will relativ weit gehen.
Die Qualitätsforschung erlebt in der Kommunikationswissenschaft seit den frühen 1990er Jahren einen Boom. Wie komplex ist der Wissenstransfer von der Wissenschaft zur journalistischen Praxis und Verlegern, die sich meist herzlich wenig um bereits bestehende Forschungserkenntnisse scheren oder nicht einmal wissen, dass es solch eine Forschung gibt?
Qualität ist ein schillernder Begriff, der mehrdimensional ist. Bleiben wir etwa auf der inhaltlichen Ebene von Qualität und sprechen von Vielfalt. Ein Beispiel: Sie können die Vielfalt von Meinungen, Themen, Orten, Akteuren in der Berichterstattung untersuchen. Das können Sie aufgliedern und messbar machen. Man kann dies auf der Ebene einzelner Beiträge wie Artikel oder zum Beispiel anhand des Gesamtprogramms beziehungsweise anhand der ganzen Zeitung untersuchen. Hinzu kommen Qualitätskriterien wie Transparenz, also die Frage, ob zum Beispiel Quellen offengelegt werden und die Informationsbeschaffung nachvollziehbar ist.
Die Liste möglicher Qualitätskriterien ist sehr lang und wird seit Jahrzehnten von der Medien- und Kommunikationswissenschaft erforscht. Es gibt Qualitätsfragen, die einfacher zu messen sind als andere. Messungen sind möglich, aber manchmal etwas aufwändig. Ohne Bürokratie würde so etwas bei der SRG natürlich nicht gehen.
Es gibt bereits zahlreiche empirische Studien, die Qualität vor allem anhand quantitativer Auswertungen untersuchen. Wie will man die Qualität der öffentlich-rechtlichen Sender messen?
Man muss in dem Fall ausfüllen, welcher Beitrag oder welche Sendung welche Qualitätskriterien erfüllt. Man versucht das aber auf eine nicht-wissenschaftliche Art, also so, dass es auch vom Regulator leistbar und auswertbar sein kann.
Der Vorgang basiert aber auf den aktuellen Erkenntnissen der Wissenschaft, wie man Qualität messen kann. Dahinter steht immer die Frage, was das öffentlich-rechtliche Programm für die Bürger in der Schweiz bedeutet. Wie relevant sind die Inhalte für ihr Leben? Solche Fragen versucht man zu messen.
Welches Qualitätsmerkmal wird in der öffentlichen Diskussion rund um die Gebühren am meisten diskutiert?
Vielfalt ist immer ein Thema. Die SRG ist in vielen Regionen der Monopolbrecher. Dort gäbe es sonst nur eine Regionalzeitung, der häufig auch noch TV und Radio in der Region gehören. Die SRG ist hier oft das einzige andere Medium, das eine Rolle spielt.
Wie steht die wissenschaftliche Community eigentlich zur «No Billag»-Initiative?
Kurt Zimmermann meinte kürzlich in der Weltwoche, man höre von der Kommunikationswissenschaft kein einziges kritisches Wort über die SRG. (lacht) Dabei begleitet sie die SRG wohlwollend, aber kritisch.
Inwiefern?
Ich bin zum Beispiel beim zivilgesellschaftlichen Verein «media Forti» aktiv, wo wir eine werbefreie SRG fordern, also eine stärkere Werbebeschränkung für öffentlich-rechtliche Sender. Das ist sicherlich nicht etwas, das bei der SRG, in der Werbebranche oder in der Politik nur auf Begeisterung stößt. Wir fordern auch, dass sich die SRG inhaltlich stärker von verschiedenen privaten Medien differenzieren muss. Die Kritik aus der Wissenschaft ist hörbar. Aber von der «No Billag»-Initiative hält niemand wirklich viel.
Wie steht die Zivilgesellschaft allgemein zur «No Bilag»-Initiative?
Ich glaube, es gibt keinen Sportverein, Volkskulturverein, Kulturschaffenden, Wissenschaftler, keine Glaubensgemeinschaft oder sonstige kulturelle Kraft, die sich nicht gegen diese Initiative geäußert hat. Selbst Jodlervereine, Swiss Olympics, einzelne Sportler wie Skifahrer, Fußballer, die sich sonst nie politisch äußern, melden sich zu Wort. Das Gleiche gilt für Filmemacher und Musiker. Sie sind kreativ und machen mit Videos oder Songs online auf sich aufmerksam. Da ist etwas in der Schweiz passiert.
Wie organisiert ist der Widerstand eigentlich?
Es gibt Komitees wie «Nein zum Sendeschluss», die ein Crowdfunding gestartet haben. Die «Operation Libero» hat als liberale Organisation von jungen Menschen fast 600.000 Schweizer Franken (CHF, rund 520.000 Euro) in einem weiteren Crowdfunding gesammelt. Die Menschen werden aktiv.
Wer ist denn eigentlich für die Abschaffung der Rundfunkgebühren?
Der Gewerbeverband. Er ist der Verband der kleinen und mittleren Unternehmen. Selbst «Economiesuisse», der Verband der Großunternehmen, ist gegen die Initiative. Bei der Abstimmung vor zweieinhalb Jahren, als es um den Wechsel des Gebührensystems ging, hat sich der Gewerbeverband schon gegen diesen Wechsel starkgemacht. Er hat auch zuerst die Unterschriftensammlung für «No Billag», damit es überhaupt zur Abstimmung kommen konnte, angefeuert und die für ein Referendum benötigten 100.000 Unterschriften gesammelt sowie eingereicht. Jetzt wird der Abstimmungskampf unterstützt.
Wie lauten die Argumente des Gewerbeverbands?
Damals wurde behauptet, dass der Wechsel bedeuten würde, dass Unternehmen zweimal zahlen müssten. Tatsächlich müssen Unternehmen immer zahlen, sobald man einen Fernseher, ein Radio, einen PC oder ein anderes Gerät besitzt, das irgendeinen Inhalt empfangen kann – und sei es nur zur Bespaßung der Mitarbeiter. Die meisten Unternehmen haben einfach nie bezahlt.
Wie sehen die aktuellen Regeln eigentlich aus?
Bei den neuen Regeln zahlt jeder Haushalt und jedes Unternehmen. Allerdings sind über 75 Prozent der Unternehmen ausgenommen, die weniger als 500.000 CHF Umsatz pro Jahr machen. Sie zahlen nicht. Wer weniger als eine Million Franken macht, zahlt so viel wie ein Privathaushalt. Erst danach steigt es an. Nur die wirklich großen multinationalen Unternehmen zahlen viel Geld und können es sich auch leisten. Die wehren sich aber nicht dagegen.
Die Argumente des Gewerbeverbands wirken an den Haaren herbeigezogen.
Dass damals mobilisiert wurde, konnte man noch verstehen, obschon mit falschen Aussagen hantiert wurde. Aber in diesem Wahlkampf wirkt es merkwürdig, weil der Service public vom Gewerbeverband komplett infrage gestellt wird.
Gibt es auch einen für die Schweiz typischen Streit zwischen den Sprachregionen?
Es ist tatsächlich ein Thema, dass ein Großteil der Gebührengelder aus der Deutschschweiz in die anderen Landesteile umverteilt wird, weil diese noch kleiner sind. Die Westschweiz, das Tessin und das rätoromanische Sprachgebiet könnten mit Gebühren nur aus ihrer Region kein Radio und Fernsehen betreiben.
Mit Blick auf das Referendum am Sonntag: Wer hat bislang die Nase vorn?
Bei der letzten Umfrage lagen wir bei 65 Prozent gegen die Initiative. Es hängt davon ab, wie viele Leute tatsächlich stimmen gehen. Und die Proteststimmen sind problematisch. Es gibt Menschen, die sagen, man solle «Ja» in die Urne werfen, damit das Resultat knapp wird und nachher bloß nicht alles gleich bleibt und die SRG sich tatsächlich reformiert. Das will sie übrigens auch tun. Solche Experimente können, wie wir jüngst mehrmals gesehen haben, nach hinten losgehen.
Was würde passieren, wenn die Rundfunkgebühren tatsächlich abgeschafft würden?
Heute erhalten alle lokalen TV- und Radiosender – außer in Zürich, wo der Markt groß genug ist – Gebührengelder. Ohne diese Gebühren würden die privaten Sender damit zwischen 40 und 90 Prozent ihrer Einnahmen verlieren. Entweder sie schließen ganz oder müssen ihr Programm massiv anpassen.
Was bedeutet das konkret für den öffentlich-rechtlichen Journalismus?
Es gäbe wesentlich weniger Information: Im Radio gibt es dann Musik und vielleicht ein paar Nachrichten, aber sicherlich keine eigenen Storys mehr. Im TV wäre eine halbstündige Nachrichten- oder Talksendung nicht mehr finanzierbar, außer eben in Zürich. Auch die SRG könnte in der heutigen Form nicht weiterexistieren. Sie hätte immer noch ihren Programmauftrag, könnte ihn aber nicht erfüllen. Das heißt, die SRG müsste letztlich abgewickelt werden.
Was würde mit den bestehenden Strukturen passieren?
Allenfalls könnte daraus ein kommerzieller Nachfolgesender entstehen, der den Unterhaltungsbereich fokussiert. Außerdem würden die ohnehin starken Marktanteile ausländischer Sender – so wie in Luxemburg übrigens auch – noch mal zunehmen.
Auch die Werbung, die heute schon zu deutschen und französischen Sendern fließt, weil diese auch verstärkt Schweizer statt ausländische Werbung ausstrahlen, würde davon profitieren. Es würde eine Beschleunigung der Werbung weg vom TV hin zu den digitalen Angeboten wie Google, Facebook und so weiter geben: Weniger Geld im Schweizer Werbemarkt, weniger Geld für Journalismus oder Publizistik.
Was passiert, wenn die Gebühren weiterhin gezahlt werden?
Im Fall eines Neins hören die Diskussionen nicht auf. Alle Parteien werden ihre Vorschläge machen und alle werden sagen, die SRG solle sparen. Es wird aber nicht zwingend darüber nachgedacht, was das Ziel der SRG ist und welche Kosten eigentlich damit verbunden sind. Man kann nicht einfach sagen «Gebühren runter auf 300 CHF pro Jahr», ohne ein Konzept zu haben.
Zur Person: Manuel Puppis
Der Deutsch-Schweizer ist Professor für Mediensysteme und Medienstrukturen am Departement für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung DCM der dreisprachigen Universität Freiburg-Fribourg in der Schweiz. Derzeit ist er Gastwissenschaftler an der New York University.
Seine Spezialgebiete sind Medienpolitik und Medienregulierung, die Funktionsweise und ökonomische Grundlagen von Medien und Journalismus sowie Mediensysteme im internationalen Vergleich. Entsprechend beschäftigt er sich etwa mit der Zukunft des öffentlichen Rundfunks und den Auswirkungen der Digitalisierung für den Journalismus. Nach seinem Doktorat an der Universität Zürich war er als Gastwissenschaftler am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung an der Universität Hamburg und als Gastprofessor an der renommierten Annenberg School for Communication an der University of Pennsylvania in Philadelphia tätig. 2012 bis 2016 war er Vorsitzender der Fachgruppe Medienpolitik der Europäischen Vereinigung für Kommunikationswissenschaft, Ecrea.
Puppis ist Präsident des zivilgesellschaftlichen Vereins «media Forti» und Mitglied der «Eidgenössischen Medienkommission» EMEK, welche die schweizerische Regierung in Medienfragen berät. Im Tageblatt-Interview vertritt er seine persönliche Meinung als Wissenschaftler.
1,13 Milliarden Euro
Die Gebühreneinnahmen, rund 1,3 Milliarden Schweizer Franken (1,13 Milliarden Euro) jährlich, werden größtenteils für die Finanzierung der Radio- und TV-Programme der SRG SSR verwendet (1,24 Milliarden CHF). Die privaten Veranstalter (Lokalradios und Privat-TV) erhalten den restlichen Anteil. Der Bundesrat legt die Einzelheiten der Empfangsgebühren fest.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können