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Deniz Yücel: Eine politische Geiselnahme

Deniz Yücel: Eine politische Geiselnahme

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Von unserem Korrespondenten Hagen Strauß

365 Tage ohne Anklage, ohne Einsicht in die Akten und ohne einen Gerichtsbeschluss – seit genau einem Jahr sitzt der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel im Gefängnis.

Weil der türkische Präsident Erdogan unabhängigen und regierungskritischen Journalismus für eine Bedrohung seiner Macht hält, sogar für Terrorismus. Weil Erdogan darin auch ein Druckmittel in der schwelenden Auseinandersetzung mit der Bundesregierung sieht. Yücels Haft ist nichts anderes als eine politische Geiselnahme. Und die kennt man ansonsten nur aus lupenreinen Diktaturen wie Nordkorea.

Das Schicksal des Journalisten ist freilich kein Einzelfall. Daran muss an diesem schlimmen Jahrestag erinnert werden. Es geht nicht nur um Yücel. Laut Reporter ohne Grenzen wurden seit dem Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 an die 150 Medien geschlossen und mehr als 100 Journalisten festgenommen.

Um die Freiheit jedes Einzelnen muss gekämpft werden, diplomatisch, politisch, zivilgesellschaftlich. Egal, für was die Inhaftierten stehen – die Meinungsfreiheit gilt für jeden Einzelnen. Und einem Land, das immer noch glaubt, auf dem Weg nach Europa zu sein, darf man es nicht durchgehen lassen, wenn es demokratische Prinzipien so übel mit Füßen tritt. Dem muss deutlich gesagt werden: Journalismus ist kein Verbrechen.

Merkel kann Druck auf die Türkei machen

Angela Merkel hat am Donnerstag wieder die Gelegenheit, den politischen Druck auf die Türkei zu erhöhen. Dann empfängt die Kanzlerin den türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim. Die Spannungen zwischen Ankara und Berlin resultieren zu einem großen Teil auch aus dem Fall Yücel. Bislang hat die Regierung Merkel jeder Möglichkeit widerstanden, sich auf einen Deal einzulassen – und das ist auch gut so. Innenpolitisch wäre dies verheerend. Eine Art Tausch Panzer gegen Yücel wäre zudem ein Signal an die Diktatoren dieser Welt, dass die deutsche Bundesregierung erpressbar ist.

Tatenlosigkeit kann man Berlin im Fall Yücel auch nicht vorwerfen. Mangelnde Konsequenz allerdings schon. Denn die große Koalition hat ihren Drohungen aus dem vergangenen Jahr nichts folgen lassen, was Ankara beeindruckt hätte. So wurde zum Beispiel die staatliche Absicherung von Türkei-Geschäften der deutschen Wirtschaft durch sogenannte Hermes-Bürgschaften nicht eingestellt, sondern lediglich gedeckelt. Was in der Praxis keinerlei Folgen für die Türkei gehabt hat. Und auch den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen hat Angela Merkel in Brüssel – wenn überhaupt – nur halbherzig verfolgt. Gekämpft hat sie dafür nicht.

Yücels Hoffnungsschimmer ist deshalb jetzt vor allem der Europäische Menschenrechtsgerichtshof, der im Sommer über seine Klage entscheiden wird. Die Türkei ist Mitglied des Europarats. Kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass eine Grundrechtsverletzung vorliegt, wäre sie verpflichtet, Yücel aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Gut möglich, dass Ankara vorher dieser politischen wie juristischen Peinlichkeit entgehen will. Bis dahin gilt aber: #FreeDeniz. Und auch #FreeThemAll.


Wirtschaftlicher Druck einzige Waffe

Ein Jahr nach der Festnahme von Deniz Yücel hat Amnesty International die Türkei zur umgehenden Freilassung des Welt-Korrespondenten aufgefordert. „Diese andauernde Untersuchungshaft ohne Gerichtsverfahren kommt einer Strafe ohne Verfahren gleich und ist menschenrechtswidrig“, kritisierte Markus Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, am Dienstag. Yücel sei einer von mehr als 100 in der Türkei inhaftierten Journalisten, deren Berichte und Kommentare der türkischen Regierung offensichtlich ein Dorn im Auge seien.

„Die freie Presse sitzt in der Türkei in Haft“, erklärte Beeko. Er rief Regierungen aller Länder dazu auf, „die umgehende Freilassung Deniz Yücels und der anderen Journalisten einzufordern und die Türkei an die Einhaltung der Pressefreiheit zu erinnern“.
Anlässlich des Jahrestages von Yücels Festnahme am heutigen Mittwoch übte Linkenchef Bernd Riexinger scharfe Kritik an der deutschen Bundesregierung. Er warf ihr eine „devote Haltung“ gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vor, der einen „Krieg gegen die Freiheit“ führe. Das sei ein viel größerer Skandal als die Inhaftierung Yücels, erklärte Riexinger.

Die Bundesregierung liefere deutsche Waffen in die Türkei, während dort mit Yücel Tausende unschuldig im Gefängnis säßen. Auch Verdi forderte mehr Druck aus Deutschland. „Solange die türkische Regierung Menschenrechte und die Pressefreiheit unterdrückt, müssen die wirtschaftlichen Beziehungen eingefroren werden“, erklärte der Vizechef der Gewerkschaft, Frank Werneke. „Das ist die einzige Sprache, die Recep Tayyip Erdogan und seine Helfershelfer verstehen.“ Diplomatische Gespräche brächten seit einem Jahr „nicht den notwendigen Erfolg“. „Die zu Unrecht Inhaftierten können nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag in türkischen Gefängnissen warten. Da braucht es jetzt mehr Druck“, forderte der Gewerkschafter.