Von Michelle Schmit*
Ende November 2017 befanden sich 313 palästinensische Jugendliche in israelischen Gefängnissen, davon zwei in „Administrative Detention“. Die anderen wurden bereits verurteilt oder warten auf ihren Prozess vor dem Militärgericht. Ihr Verbrechen? Das Werfen von Steinen.
In den besetzten palästinensischen Gebieten kommt es immer wieder vor, dass israelische Soldaten Jugendliche festnehmen oder gar erschießen, da diese sich ihnen widersetzen, indem sie Steine auf sie werfen. So kam es zum Beispiel allein im Januar 2018 zu fünf unabhängigen tödlichen Vorfällen.
Am 3. Januar trafen Schüsse von Soldaten den 16-jährigen Mus’ab a-Sufi in den Kopf und töteten ihn. Am 11. Januar gab es gleich zwei Vorfälle: Im Süden von Nablus wurde der 17-jährige Ali Qinu ebenfalls am Kopf getroffen und getötet und in Gaza trafen Schüsse den 15-jährigen Amir Abu Masa’ed in die Achsel, er erlag seinen Verletzungen. Am 30. Januar wurde der 16-jährige Layth Abu Na’im in den Kopf getroffen und getötet. Jeder dieser Minderjährigen wurde von israelischen Soldaten getötet, da er auf Demonstrationen Steine auf die Soldaten warf.
Diese Kinder werfen weiterhin mit Steinen und riskieren so, verhaftet oder gar getötet zu werden – einzig, um ein Zeichen des Protests zu setzen. Die Minderjährigen haben meist ihr ganzes Leben in den besetzten Gebieten verbracht und sind somit ständiger Demütigung ausgesetzt. Ein Kind, das tagtäglich sieht, wie sein Vater oder seine Mutter an Checkpoints durchsucht und manchmal sogar gezwungen wird, sich komplett auszuziehen, wird unglaublich wütend. Einige dieser Kinder sind wütend auf ihre Eltern, da sie der Meinung sind, dass diese sich widerstandslos der Erniedrigung unterwerfen. Das bringt sie dazu, an Demonstrationen teilzunehmen und, wenn sie einen Soldaten sehen, die einzige „Waffe“ zu nehmen, die sie haben: Steine.
Israel ist das einzige Land, wo selbst Minderjährige vor ein Militärgericht kommen. Die Festnahmen der palästinensischen Kinder finden meist nachts statt. Soldaten dringen in ihr Haus ein, sie werden aus dem Bett gezerrt und mit verbundenen Augen in eine Haftanstalt gebracht. Anders als israelische Minderjährige werden sie nicht von einem Elternteil begleitet und meist ohne Beistand eines Anwalts mehrere Stunden lang verhört. Es kommt nicht selten vor, dass sie während dieses Verhörs Opfer von physischer Gewalt werden. Steine werfen wird in Israel als Straftat angesehen und kann mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft werden.
Niemand darf geschlagen werden
Die Kinder sehen ihren Anwalt oder ihre Eltern erst bei Prozessbeginn. Sie bekennen sich meist gleich schuldig, da sie hoffen, so am ehesten aus diesem System herauszukommen. Ihnen wird ein Schuldbekenntnis in Hebräisch vorgelegt, welches sie, ohne ein Wort zu verstehen, unterschreiben. Nur sehr selten werden die verhafteten Minderjährigen bis zum Prozessbeginn auf Bewährung entlassen.
Dies war allerdings glücklicherweise bei Fawzi al-Junaidi der Fall. Das Foto der Festnahme des 16-Jährigen ging um die ganze Welt und wurde zum Symbol für die unnötige Gewalt bei Festnahmen minderjähriger Palästinenser. Fawzi wurde Anfang Dezember 2017 – angeblich irrtümlich – bei einer Manifestation gegen den Erlass Trumps, die US-Botschaft nach Jerusalem zu verlegen, festgenommen. Er beteuert, dass er nicht an den Protesten teilgenommen habe, sondern lediglich auf dem Weg zum Supermarkt war. Da sein Vater an einer schweren Beinverletzung leidet und seine Mutter eine unheilbaren Krankheit im Endstadium hat, ist Fawzi mit seinen 16 Jahren der Kopf des Haushaltes.
An jenem Tag konnte er sich jedoch nicht um die Einkäufe kümmern, denn er wurde festgenommen und mit verbundenen Augen von 20 israelischen Soldaten abgeführt. Ihm wird vorgeworfen, Steine auf israelische Soldaten geworfen zu haben. Nach drei Wochen wurde der Junge aufgrund seines sich verschlimmernden Gesundheitszustands und nach Zahlung von umgerechnet 2.300 Euro Kaution entlassen. Im Krankenhaus stellten Ärzte fest, dass seine Schulter ausgekugelt ist und er überall am Körper Prellungen hat.
Die Geschichte von Ahed Tamimi, der 17-jährigen palästinensischen Aktivistin, ist ein weiteres Beispiel dafür, was einen an der Rechtmäßigkeit des Ablaufs der Festnahmen Minderjähriger in den besetzten Gebieten zweifeln lässt. Die junge Blondine stammt aus Nabi Salih, im besetzten Westjordanland.
Am 15. Dezember 2017 nahm Ahed an Protesten gegen israelische Siedlungen in der Nähe ihrer Heimatstadt teil. Angeblich warfen Jugendliche aus ihrem Haus heraus Steine auf eine Gruppe israelischer Soldaten, welche daraufhin das Haus stürmten. Während dieses Protests traf ein Schuss Aheds 14-jährigen Cousin Mohammed ins Gesicht und verletzte ihn schwer. Daraufhin lief Ahed zu dem Soldaten, von dem der Schuss ausging, begann, ihn zu stoßen und zu beschimpfen, und verpasste ihm anschließend eine Ohrfeige. Der Soldat reagierte nicht darauf.
Falsche Reaktion auf Wut
Vier Tage später stürmte eine Gruppe von Soldaten das Haus der Tamimis und nahm Ahed mitten in der Nacht fest. Sie wird beschuldigt, Soldaten attackiert und Steine geworfen zu haben. Am 13. Februar wurde Ahed dem Militärgericht vorgeführt und es wurde Anklage in zwölf Punkten, unter anderem im Steine werfen, erhoben. Ihre Festnahme hat auf der ganzen Welt für Aufregung gesorgt. Internationale Organisation halten ihre Anklagepunkte für disproportional, besorgniserregend und diskriminierend. Man merkt schnell, dass es hier nicht nur um prozedurale Probleme eines Rechtssystems geht. Natürlich kann man das, was diese Jugendlichen tun, nicht herunterspielen. Die Soldaten könnten von Steinen oder anderen Gegenständen, die geworfen werden, verletzt werden. Allerdings muss man sich fragen, ob es die richtige Lösung ist, diese wütenden Kinder mitten in der Nacht aus ihrem Bett zu zerren und sie dann – verängstigt und allein – stundenlang zu verhören, um endlich ein falsches Geständnis aus ihnen herauszubekommen. Diese Vergehen geschehen meist bei Protesten, bei denen mehrere Menschen anwesend sind. Es kann also gut sein, dass, wie beim Fall von Fawzi, die falsche Person festgenommen und durch dieses Erlebnis für den Rest seines Leben traumatisiert wird.
Kein Mensch darf geschlagen oder gefoltert werden, um ein Geständnis zu erzwingen – unabhängig von der Schwere des Vergehens. Außerdem hat jeder Mensch das Recht auf Rechtsbeistand und jeder Minderjährige darauf, dass seine Eltern beim Verhör dabei sind. Unabhängige internationale Organisationen haben mehrere Male bewiesen, dass diese Rechte palästinensischen Jugendlichen im israelischen Regime nicht gewährleistet werden.
* Michelle Schmit (22) ist gebürtige Luxemburgerin, lebt zurzeit in Paris und schließt gerade ihren Master 1 in „Droit international général“ an der „Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne“ ab. Teil 1 dieser Serie erschien am 13.2.2018, Teil 2 am 15.2.2018.
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