Von Lucien Montebrusco mit dpa
Nur wenige Menschen erinnern sich noch selbst an die Schlacht von Stalingrad. Zwei Moskauer Veteranen erzählen zum 75. Jahrestag eines der schlimmsten Kapitel des Zweiten Weltkriegs, wie sie den Kampf gegen die Nazis an der Wolga erlebten.
Februar 1943: Im Süden Russlands nähert sich eine der heftigsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs ihrem Ende. Beharrlich hat die Rote Armee die Soldaten der deutschen Wehrmacht in Stalingrad (heute Wolgograd) eingekreist und ausgehungert. «Die deutschen Truppen leisteten erbitterten Widerstand und versuchten mit allen Kräften, den Kessel zu durchbrechen», sagt Witali Kolessow. Kolessow war dabei. Der heute 94-jährige Moskauer war damals 19 und kommandierte ein sowjetisches Artillerie-Geschütz. Er kämpfte mit der Roten Armee für den Sieg in Stalingrad, der einen Wendepunkt im Krieg brachte. 75 Jahre nach dem Ende der Schlacht (Kapitulationen am 31. Januar und 2. Februar) erzählen Kolessow und seine Kameradin Tamara Alexandridi (93) von den Schrecken des Krieges.
Ein Moskauer Veteranenverband hat das Treffen mit den Zeitzeugen arrangiert.
«Als unsere Panzer vorrückten, lag tiefer Schnee. Es war minus 20 Grad», schildert Kolessow eine Episode der Kesselschlacht. Seine Erinnerung ist glasklar. Seine Worte sind präzise. Er habe die sowjetischen Panzer von seinem Geschütz aus beobachtet.
«Plötzlich öffnete sich an vorderster Front ein Flügeltor und eine Panzerabwehrwaffe stellte sich uns entgegen. Was sollte ich tun? Ich eröffnete das Feuer und zerstörte den Gegner. Damit habe ich ein, zwei, vielleicht drei von unseren Panzern gerettet. Ist das Grausamkeit? Oder ist das das Gesetz des Krieges?»
«Plötzlich blieb unser Auto liegen»
Kolessow blieb Berufssoldat. Rund 50 Jahre stand er im Dienst der sowjetischen Armee. Das soldatische Pflichtbewusstsein ist dem Mann mit dem akkurat gekämmten weißen Haar bis ins hohe Alter geblieben. Tamara Alexandridi sagt, sie sei weniger in direkte Kämpfe verwickelt gewesen als Kolessow. «Ich war nicht in der vordersten Reihe. Mich konnten sie nur bei Bombardements töten, aber ich habe überlebt.» Damals war Alexandridi 17 Jahre jung. Direkt nach der Schule meldete sich die Moskauerin freiwillig. Sie wurde Funkerin. Im Juli 1942 kam sie nach Stalingrad, noch bevor die Wehrmacht dort angriff.
Alexandridi erinnert sich gut an einen Moment im Herbst vor der langen Schlacht, als sich ihre Funkereinheit vor den heranrückenden Deutschen in Sicherheit brachte. Damals ging es um Leben und Tod. «Plötzlich blieb unser Auto liegen.» Ein Lastwagen habe gehalten und sie – die einzige Frau in der Gruppe – mitgenommen. Die anderen blieben zurück und kamen in deutsche Kriegsgefangenschaft, wie sie später von einem Überlebenden erfuhr. «Ich hatte Glück.»
Die meisten noch lebenden Kämpfer des Zweiten Weltkriegs sind über 90. Die Veteranenverbände helfen ihnen im Alltag und halten die Erinnerung wach. Solche Verbände gibt es viele in Russland, aber die Zeitzeugen des «Großen Vaterländischen Krieges» werden weniger. Rund 6.300 Mitglieder zähle sein Moskauer Komitee der Kriegsveteranen noch, sagt Mitarbeiter Anatoli Ryndin. «Aber jedes Jahr sterben altersbedingt rund 100», sagt er.
«Hoffnung auf den Sieg»
Kolessow und Alexandridi wirken fit. Was sie verbindet, sind nicht nur das Alter und die Orden auf der Brust: Schon im Krieg einte sie der Siegeswille. «Uns kam es barbarisch vor, dass Deutschland – ein kleines Land – uns – das riesige Russland – angegriffen hat. Das Ende war vorbestimmt», sagt Alexandridi. «Angefangen mit Stalingrad, hatten wir immer Hoffnung auf den Sieg», meint Kolessow.
Wenn er vom «großen Sieg des Sowjet-Volkes» spricht, ist ihm Stolz anzumerken. Sein Bericht über das Ende der Schlacht aber ist auch mitfühlend. Zehntausende deutsche Soldaten kamen in Gefangenschaft. «Ich habe eine kilometerlange Kolonne von Kriegsgefangenen gesehen. Hungernde, frierende, schmutzige, zerlumpte. Sie waren nicht für den Winter ausgerüstet. Die gefangenen Deutschen sahen erbärmlich aus.»
«Ich hatte keinen Hass auf die Deutschen», sagt Alexandridi. Sie wurde Elektroingenieurin und freundete sich mit einem deutschstämmigen Professor und seiner Familie an.
Gerade heute, in Zeiten tiefer Spannungen zwischen Russland und dem Westen, sehen die beiden Stalingrad-Veteranen die Lehren des Weltkriegs. «Theoretisch ist so eine Katastrophe noch immer möglich. Aber Putin und unsere Diplomaten tun alles, um das zu verhindern», erklärt Kolessow.
Die Wende
Am Freitag vor 75 Jahren ging eine der grausamsten Auseinandersetzungen zwischen der deutschen Wehrmacht, ihren Alliierten und den sowjetischen Truppen zu Ende. Die Schlacht um Stalingrad in Russland gilt als eine der wichtigsten Etappen bei der Niederschlagung der Nazis.
Im Sommer 1942 war die 6. Armee von General Friedrich Paulus angetreten, auf Geheiß Hitlers die Stadt an der Wolga einzunehmen. Sechs Monate später mussten er und die spärlichen Überreste seiner Armee in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Dazwischen lagen Monate währende blutige Kämpfe auf offenem Feld, vor allem aber in den Straßen und Gassen der Stadt. Fast jedes Haus der weitgehend durch deutsche Bombardements zuvor zerstörten Stadt wurde zur Festung, um die sich die Gegner blutige Gefechte lieferten. Die äußerst schwere Versorgungslage , der extrem harte Winter und die unmenschliche sanitäre Situation machten das Leben der Streitkräfte in den Erdlöchern und Schützengräben, vor allem aber jenes der in den Ruinen der Stadt verbliebenen Zivilbevölkerung enorm zur Hölle.
Politische Signalwirkung
Die Verluste auf beiden Seiten während der sechsmonatigen Kämpfe sind enorm: rund 500.000 tote Soldaten auf sowjetischer Seite, etwa 300.000 auf deutscher Seite und knapp 200.000 aufseiten der deutschen Alliierten (Italiener, Rumänen, Ungarn und Kroaten). Wie viele Zivilisten ums Leben kamen, ist bis heute nicht genau festzustellen. Die Rede aber ist von Zehntausenden Opfern. Von militärstrategischer Bedeutung war die gewonnene Schlacht, weil sie den Deutschen den Griff auf die Ölfelder im Kaukasus und den Zugang zur Wolga als wichtige Wasserstraße verbaute.
Wichtiger war jedoch die politische Signalwirkung an die Alliierten, die gegen die Nazis kämpften. Nach der Niederlage der Deutschen vor Moskau und dem misslungenen Versuch, Leningrad einzunehmen, bestätigte der Ausgang der Schlacht von Stalingrad, dass Nazi-Deutschland militärisch zu besiegen ist.
Stalingrad/Wolgograd ist neben Leningrad, Odessa und Sewastopol eine der vier sowjetischen Städte, denen die sowjetische Führung den Ehrennamen Heldenstadt noch während des Zweiten Weltkrieges verlieh. Ihr Name steht u.a. auch am «Ewigen Feuer» im Alexander-Garten entlang der Kreml-Mauer in Moskau, neben den Denksteinen für weitere Heldenstädte.
Der Ablauf
17. Juli 1942
Ein Jahr nach dem Überfall der Nazitruppen auf die damalige Sowjetunion beginnt die Schlacht von Stalingrad. Im Sommer hatte das Deutsche Reich eine Offensive gestartet, um sich die sowjetischen Ölfelder im Kaukasus zu sichern. Mit der Eroberung der Stadt an der Wolga wollte die Wehrmachtführung ein wichtiges industrielles Zentrum der UdSSR zerstören. Gleichzeitig hätte die Eroberung der nach dem sowjetischen Leader Stalin benannten Großstadt dem Reich auch einen propagandistischen Sieg verschafft.
23. Juli
Die Verteidigungslinie der Roten Armee verschiebt sich unter den Schlägen der 6. Armee von General Friedrich Paulus vom Fluss Tschir, einem Nebenfluss des Don im Westen, bis zur Stadt Kalatsch am Don. Von hier aus wollen die deutschen Truppen über den Strom übersetzen und auf dem kürzesten Weg nach Stalingrad.
17. August
Unter den Schlägen der Deutschen müssen die sowjetischen Einheiten am 10. August das rechte Don-Ufer verlassen und übersetzen. Die Wehrmacht überschreitet den Don bei Kalatsch. Am 17. August gelingt es der Roten Armee, den Vormarsch der Deutschen vorerst zu stoppen.
23. August
Die deutschen Truppen erreichen das Ufer der Wolga bei Rynok nördlich von Stalingrad. Am 23. und 24. August wird die Stadt einem massiven Bombardement unterzogen und dabei fast vollständig zerstört. Über 40.000 Zivilisten kommen dabei ums Leben. Da die Stadt zuvor nicht evakuiert wurde und eine vollständige Evakuierung an das linke Ufer der Wolga nicht mehr möglich ist, müssen über 70.000 Menschen in der Stadt ausharren und in Erdlöchern wohnen.
12. September
Die Deutschen erreichen die äußeren Stadtbezirke von Stalingrad. In blutigen Straßenkämpfen wird um jedes Häuserquartal, jedes Haus gekämpft. Die Wehrmacht dringt auch in das weiträumige Gelände der Stalingrader Traktorenfabrik. Statt Traktoren wurden hier seit Januar 1941 Dieselmotoren für die Armee und Panzer gebaut, u.a. der legendäre T-34. Die Maschinen rollten gleich aus der Fabrik an die Front. An den Steuerhebeln saßen oftmals Fabrikarbeiter. Am 13. September mussten die Produktionslinien wegen der Kämpfe auf dem Werksgelände gestoppt werden. Die Traktorenfabrik war eines der letzten Betriebe der Stadt. Vor Angriffsbeginn waren 90 Prozent der Industriebetriebe in den Ural, nach Kasachstan und Sibirien evakuiert worden.
18. November
Letzte Versuche der Deutschen, durch die sowjetischen Verteidigungslinien weiter in die Stadt vorzudringen. Sie kommen nur bis zur Geschützfabrik «Barrikady» an der Wolga. An diesem Tag wird der Vormarsch an sämtlichen Fronten gestoppt. Die Wehrmacht muss auf Verteidigung umschalten. Der Plan, die Stadt zu erobern, ist gescheitert.
19. November
Die sowjetischen Truppen beginnen die Gegenoffensive «Uranus», mit dem Ziel, die Angreifer großräumig einzukreisen.
23. November
Die sowjetischen Einheiten der Donfront und der Südwestfront schließen die Einkreisung der Deutschen ab. Im Kessel befinden sich 22 Divisionen, mehr als 160 weitere Einheiten der 6. Armee sowie Teile der 4. Deutschen Panzerarmee. Insgesamt 300.000 Menschen.
12. Dezember
Die Wehrmacht unternimmt mit der 4. Panzerarmee einen letzten, aber erfolglosen Versuch, die eingeschlossenen Truppenteile aus der Umkreisung zu befreien. Am 8. Januar 1943 lehnt General Paulus die Aufforderung der Sowjets zur Kapitulation ab.
10. Januar 1943
Die sowjetischen Einheiten ziehen den Ring um die deutschen Truppen zu.
31. Januar
Russische Soldaten umzingeln das Kaufhaus «Univermag». In dessen Keller befindet sich das Hauptquartier von General-Feldmarschall Friedrich Paulus, der an diesem Tag gefangen genommen wird.
2. Februar
Paulus wird dem Generalleutnant und späteren Marschall der Sowjetunion zum Verhör vorgeführt. Vom 10. Januar bis zum 2. Februar wurden 61.000 Soldaten gefangen genommen. 140.000 wurden getötet. Im Verlauf der sowjetischen Offensiven während der Schlacht um Stalingrad werden die deutsche 6. Armee, die 4. Panzerarmee, die 3. und 4. rumänische Armee und die 8. italienische Armee vernichtet.
85 Meter hohes Mahnmal
Riesige Schneeflocken wirbeln auf die Inschriften der Grabsteine, die eisige Luft macht das Atmen schwer. Die Stille an dem Hügel im einstigen Stalingrad wird nur durch den zügigen Stechschritt der russischen Soldaten unterbrochen, die zur Wachablöse am Ewigen Feuer herbeimarschieren. Das riesige Monument «Mutter Heimat» auf Mamajew Kurgan übersieht niemand in Wolgograd. Es erinnert an eines der schlimmsten Kapitel im Zweiten Weltkrieg – die Schlacht von Stalingrad. Russland feiert den Sieg am 2. Februar mit Feuerwerk, einer Lasershow und mit 75 Panzern.
Die Russin Valentina hält inne, ihr Blick richtet sich in die Höhe. Ehrfürchtig legt sie ihre Hand behutsam auf den Sockel des 85 Meter großen Monuments. «Es zieht mich immer wieder hierher – wie ein Magnet», sagt die Frau. Sie ist in Wolgograd geboren, ihre Familie durchlebte die Belagerung der Stadt. Auch deswegen ist der Besuch in ihrer Heimatstadt für Valentina jedes Mal sehr emotional.
Heute flanieren die Menschen durch die Hauptstraße, Kinder posieren lachend am bunten Schriftzug «Wolgograd», der am Flussufer steht. Er soll auf die Fußball-Weltmeisterschaft hinweisen, die im Sommer auch in der Millionenmetropole stattfindet. Die Erinnerung an die Schlacht ist jedoch allgegenwärtig. Von der Allee der Helden über den Platz der getöteten Kämpfer bis hin zur Straße der Roten Armee: Beinahe jeder Ort hält die Erinnerung an die dramatische Geschichte wach.
«Die Stadt wird ewig mit dem Krieg verbunden sein. Das ist unser Schicksal», sagt der Leiter des Stalingrad-Museums, Alexej Wassin. Aus dem Fenster seines modernen Büros blickt er direkt auf die Backstein-Ruine des sogenannten Pawlow-Hauses im Stadtzentrum. Hier tobte wochenlang ein heftiger Kampf zwischen sowjetischen und deutschen Soldaten – mittendrin bangten die in der Stadt eingeschlossenen Kinder, Mütter und alten Menschen um ihr Leben. «Bald zeigen wir genau hier auch eine Multimedia-Show. Das richtet sich dann besonders an die jungen Leute», sagte Wassin.
«Es geht hier nicht nur um Patriotismus und Heldentum», sagt der Museumsdirektor bestimmt. «Die Großväter und -mütter leben nicht mehr. Alle Zeitzeugen der Schlacht sterben und können uns bald nicht mehr vom Schicksal unserer Stadt erzählen.» Wassins Museum zählt zu den meistbesuchten Ausstellungen Russlands. Mehr als zwei Millionen Menschen seien 2017 in das Museum am Wolga-Ufer gekommen.
In dem kreisrunden Bau im Stadtzentrum reihen sich vor allem Raketenwerfer an Sturmgewehre und Uniformen. An den Wänden hängen riesige Bilder, die Stalin und sowjetische Generäle zeigen. Genau dokumentiert werden die Kampfhandlungen, kurze Filmsequenzen zeigen den Horror der Tage. Bombenhagel ließ damals die Stadt in Flammen aufgehen. Die Szene wird im Minutentakt mit dramatischen Bilden an die Wand projiziert.
Fast unauffällig wirkt hingegen der Soldatenfriedhof Rossoschka, rund 40 Kilometer von Wolgograd entfernt. Nur eine kleine, wenig befahrene Landstraße führt zu der einsamen Gedenkstätte. Hier sind nicht nur Soldaten der deutschen Wehrmacht, sondern auch Angehörige der Roten Armee begraben. Die Gegner von einst sind nur durch die holprige Straße getrennt.
Hunderte Helme auf Grabsteinen reihen sich aneinander, sie erinnern an die toten sowjetischen Soldaten. Auf deutscher Seite stehen meterhohe Granitblöcke, in denen die Namen und Sterbedaten der gefallenen Soldaten eingemeißelt sind. Mehr als 61.000 Gefallene sind hier bestattet, umgekommen bei Kampfhandlungen oder in der Kälte erfroren.
Wir Westler vergessen zu oft, ohne die Hilfe der Roten Armee, den Blutzoll des russischen Volkes, wäre Nazideutschland nie besiegt worden. Nur ein Zweifrontenkrieg konnte die deutsche Militärmaschinerie vernichten.