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Berufskrankheiten: 160.000 Todesfälle pro Jahr in der EU

Berufskrankheiten: 160.000 Todesfälle pro Jahr in der EU
Das Publikum in der Escher „Maison du peuple". Foto: Editpress/Isabella Finzi

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Die Rolle der Arbeitsmedizin im 21. Jahrhundert.

Die Arbeitsmedizin ist ein Nebenprodukt der industriellen Revolution, entstand mit dieser Ende des 19. Jahrhunderts. Sie sei ein Instrument, so Laurent Vogel, Forscher beim Europäischen Gewerkschaftsbund, werde allerdings oft falsch verstanden und falsch eingesetzt. Während einer Konferenz in der Escher «Maison du peuple», der u.a. die beiden Minister Lydia Mutsch (Gesundheit) und Nicolas Schmit (Arbeit) beiwohnten, ging er ausführlich auf das Thema ein.

«Welche Arbeitsmedizin brauchen wir?», so die Fragestellung von Vogel, der nach einer Einführung von Jean-Luc de Matteis, Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes des OGBL und Experte für arbeitsmedizinische Fragen, auf die konfliktuelle Position der Arbeitsmedizin einging.

Sie unterliege zwar einer Evolution, genau wie die Arbeit selbst, sei aber allzu oft für Patronatszwecke eingesetzt worden und werde es auch jetzt noch.

Gleich zu ihren Anfängen habe diese Sparte der Medizin den Druck der Arbeitgeber gespürt. Sie sei zu Selektionszwecken bei der Einstellung, zu disziplinarischen und Repressionszwecken missbraucht worden – basierend auf der Theorie, dass die Arbeitsplätze privater Raum mit eigenen Regeln und sozial unsichtbar seien.

Brustkrebs bei Reinigungskräften

Diese Rolle habe die Arbeitsmedizin auch weiterhin übernommen – etwa beim langen Widerstand, Asbest als ursächlich für Berufskrankheiten anzuerkennen. Sie habe eher dabei geholfen, die Dimension der Belastung herunterzuspielen. Auch heute noch würde sich mit der Anerkennung mancher Pathologien als Auswirkung der Arbeit schwergetan. So sei etwa Brustkrebs bei Frauen erst in wenigen Fällen in den USA als Berufskrankheit anerkannt worden, in Europa in keinem einzigen Fall.

Dabei haben Studien ergeben, dass die Krankheit in manchen Berufssparten überdurchschnittlich oft vorkommt – besonders bei Reinigungskräften (regelmäßiger Gebrauch von chemischen Produkten) und bei Krankenschwestern (psychische Belastung), was beweist, dass ein Zusammenhang mit der Arbeit besteht.

Gestern Silikose, heute Psychose

Die Zurückhaltung bei der Anerkennung von Berufskrankheiten, die selbstredend zum Nachteil der Arbeitnehmer ist, habe es bereits in früheren Zeiten gegeben, meinte Vogel. So sei die Silikose (Staublunge) bei Bergarbeitern lange nicht als Auswirkung der Arbeit unter Tage anerkannt worden.

Die Medizin sei laut Vogel nach dem Prinzip «Ecole du silence» verfahren. Das gleiche Phänomen sei heute bei Suizid, bei Perturbationen des endokrinen Systems und bei negativen Auswirkungen von Nanopartikeln auf die Gesundheit zu beobachten. Statt alle durch die Arbeit verursachten Gesundheitsbelastungen zu sammeln und zu dokumentieren, werde immer noch auf andere mögliche Ursachen von Pathologien verwiesen.

Soziale Ungleichheit bei der Gesundheit

Dabei führe dies – stärker noch als Einkommens- und Vermögensunterschiede – zu einer dramatischen Ungleichheit: eine Ungerechtigkeit, die je nach Beruf schneller zum Tod führen könne.

Dies zu verhindern, in diesem Sinne präventiv zu wirken, sei laut Vogel die Hauptaufgabe einer zeitgemäßen Arbeitsmedizin. Einfach sei dies nicht: Eine «patronale Offensive» versuche zurzeit, die Arbeitsmedizin der «Zufriedenheit der Kunden» (sprich: die der Unternehmer) unterzuordnen.

So werde versucht, sie von Aufgaben der Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu entfernen, etwa durch Grippeimpfungen oder Einsatz gegen Suchterkrankungen.

Die Arbeitgeber würden zudem versuchen, jegliche gewerkschaftliche Kontrolle in diesem Bereich zu verhindern, und sie würden weiterhin eine «Medizin der Stille» fördern, die der Öffentlichkeit und den zuständigen Stellen Berufskrankheiten und somit die Realitäten der Arbeit verschweige.

Der Kampf für gesunde Arbeitsplätze sei gleichbedeutend mit dem Einsatz für bessere Arbeitsbedingungen. Hierzu gehören die Gleichstellung der Geschlechter, die Verringerung der Arbeitszeit, die Ausweitung der sozialen Sicherheit, aber auch die Einschränkung chemischer Risiken. Es könne nicht sein, dass am Arbeitsplatz andere Grenzwerte gelten als für die Bevölkerung außerhalb der Arbeit.

Dies sei noch vielfach der Fall und untragbar.

Schließlich plädierte Vogel für eine Annäherung der bislang oft isolierten Arbeitsmedizin an die öffentliche Gesundheit – es gebe nämlich kaum Austausch zwischen Arbeitsmedizin und Generalisten; die Anamnese der Patienten durch Allgemeinmediziner schließe zwar fast immer Fragen nach Alkohol und Tabak ein, selten aber nach der Art des ausgeübten Berufes.

Auch in der medizinischen Forschung herrsche diesbezüglich noch Nachholbedarf. Die Arbeitsmedizin solle allgemein stärker in die Gesellschaft rücken, raus aus ihrer Isolation.

Angesichts der 160.000 Toten in der EU, die jährlich an den Auswirkungen ihrer Berufe sterben – laut Vogel allein 100.000 durch Krebserkrankungen –, müsse es ein Umdenken geben. Den Tod zu finden, um sein Leben zu verdienen, sei recht sinnfrei.

Jean-Luc De Matteis: „Rolle der Arbeitsmedizin stärken“

Im Namen des OGBL führte Jean-Luc De Matteis in das Thema ein und verwies darauf, dass die Arbeit einen ständigen Wandel erlebe und damit verbundene Gesundheitsgefahren somit auch. Der OGBL plädiere für einen einzigen arbeitsmedizinischen Dienst im Lande, der sich eventuell in verschiedene spezialisierte Abteilungen aufteilen könne, statt der bislang aufgesplitterten Arbeitsmedizin. Er verwies auch auf das Risiko einer „Kommerzialisierung“ der Arbeitsmedizin und ihren Einsatz im Interesse der Arbeitgeber.

 

Fakten

  • 45 Prozent der EU-Bürger, die älter als 50 Jahre sind, würden gerne ihre Arbeitszeit reduzieren, 11 Prozent möchten mehr arbeiten
  • Krankheiten, die in Zusammenhang mit der Arbeit stehen, verursachen jährlich 160.000 Todesfälle in der EU.
  • Arbeitnehmer im Alter von 50 bis 64 bilden in der EU 26 Prozent aller Beschäftigten (Stand 2013)
  • 175 Millionen Arbeitsstunden gehen in Großbritannien jährlich durch Gesundheitsprobleme verloren, 80 Prozent der erwachsenen Bevölkerung leiden mindestens einmal während ihres Berufslebens an Rückenschmerzen