Von unserem Korrespondenten Werner Kolhoff
Am Mittwoch treffen sich die Spitzen von Union und SPD zu einem weiteren Vorgespräch über eine mögliche Regierungszusammenarbeit. SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles lässt offen, ob das eine neue große Koalition werden wird. Was sie im Gespräch mit unserem Berliner Korrespondenten Werner Kolhoff jedoch fordert, ist eine neue, bürgernähere Politik.
Tageblatt: Wenn Sie in Ihrem Wahlkreis unterwegs sind: Spüren Sie, dass die Leute allmählich unruhig werden wegen des Hin und Her in Berlin?
Andrea Nahles: Beim Weihnachtskonzert des Musikvereins fragte jemand: Andrea, vor dem Jahreswechsel wird das mit der Regierungsbildung wohl nichts mehr, oder? Die zeitlichen Vorstellungen gehen also etwas auseinander. Das liegt aber am Scheitern von Jamaika, nicht an der SPD.
Wie sind denn Ihre zeitlichen Vorstellungen?
So zügig wie möglich. Wir lassen uns aber nicht drängen. Wenn es viele inhaltliche Gemeinsamkeiten gibt, kann man über eine neue Koalitionsvereinbarung reden. Gibt es nur wenige, muss man eher über andere Modelle der Regierungsbildung sprechen. Und gibt es zu wenige Schnittmengen, wird es keine Regierungsbeteiligung der SPD geben. Ich denke, darüber werden wir im Januar Klarheit haben. Wir werden die Geduld der Bürger nicht überstrapazieren.
Warum verhandeln Sie nicht gleich mit dem Ziel einer neuen großen Koalition? Das erwarten die Menschen nämlich.
Wir verhandeln mit dem Ziel, den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu stärken. Wenn wir da konkrete Maßnahmen verabreden können, haben wir auch eine gute Chance, einen Koalitionsvertrag hinzubekommen. Wir müssen uns auch über die Art der Zusammenarbeit zwischen SPD und Union verständigen. In welcher Form auch immer die stattfinden wird. Wir können angesichts unserer beiden Wahlergebnisse nicht einfach so weitermachen.
Was muss aus SPD-Sicht mindestens in einem akzeptablen Koalitionsvertrag stehen?
Ich mache keine roten Linien auf. Grundlage ist der Parteitagsbeschluss. Und wir sollten über mögliche gemeinsame Ziele reden. Die Menschen erwarten, dass wir uns um die Dinge kümmern, die in ihrem Leben wichtig sind, im Dorf, in der Kommune, im Wohnquartier. Daran wollen wir uns orientieren. Unsere Politik muss bei den Menschen im Alltag ankommen.
Bei Jamaika ging es zu Beginn darum, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Das müsste zwischen Union und SPD anders sein. Vertrauen Sie Angela Merkel und Horst Seehofer?
Ja, ich habe kein grundsätzliches Vertrauensproblem. Wir kennen uns, und ich glaube, dass die Union die Zusammenarbeit mit uns wirklich will. Aber ich habe noch kein Zutrauen, ob die Verabredungen am Ende ausreichen, und ob sie dann von allen mitgetragen werden – auch von Herrn Söder und Unterströmungen in der Union.
Wenn Sie ergebnisoffen verhandeln wollen, brauchen Sie möglichst große Handlungsfreiheit. Stören Sie da öffentliche Vorfestlegungen von Teilen Ihrer Basis?
Der Bundesparteitag hat nach langer Debatte einen Rahmen formuliert. Es ist ärgerlich, wenn manche nun meinen, diesen persönlich enger zu ziehen. Ich sage das auch in Richtung Thüringer Landesverband, der auf seinem Parteitag gerade einen Beschluss gegen die große Koalition gefasst hat. Noch vor Sondierungen.
Würden Sie im Fall einer großen Koalition eigentlich lieber wieder ins Kabinett gehen oder Fraktionschefin bleiben wollen?
Jetzt ist sicher nicht der richtige Zeitpunkt für Personalfragen. Für mich persönlich kann ich aber sagen, dass ich in jedem Fall Fraktionsvorsitzende bleiben möchte.
Sind Neuwahlen überhaupt eine realistische Option? Die würden die SPD doch total unvorbereitet treffen.
Ich will keine Neuwahlen, niemand will sie. Aber sie könnten das Ergebnis sein, wenn wir nicht genügend Gemeinsamkeiten für die Zukunft unseres Landes finden.
Die SPD hätte nicht mal einen Spitzenkandidaten.
Sollte sich die Frage von Neuwahlen stellen, sind wir in der Lage, alle Fragen kurzfristig zu lösen. Jetzt wird erst mal mit der Union sondiert, und zwar ernsthaft und ergebnisoffen.
Der Erneuerungsprozess der SPD soll stattfinden, egal wie die Koalitionsgespräche verlaufen. Was muss die Partei denn am dringendsten erneuern?
Wir müssen die beschlossene Offenheit für neue Arbeitsformen und Lebensstile ernst nehmen und im Parteileben umsetzen. Darüber hinaus müssen wir uns inhaltlich stärker den Zukunftsdebatten stellen, insbesondere den Veränderungen durch die Digitalisierung und den digitalen Kapitalismus mit all seinen Facetten.
Sigmar Gabriel empfiehlt, auch Begriffe wie Heimat und Leitkultur zu besetzen.
Mit dem Begriff Leitkultur kann ich nichts anfangen. Richtig ist: wir müssen mehr darüber reden, wie und mit welchen Werten wir in unserem Land zusammenleben wollen. Und zwar nicht nur mit den neu zu uns Kommenden, sondern mit allen. Auch mit den Rechtspopulisten, die unsere Weltoffenheit angreifen. Heimat und Weltoffenheit gehören zusammen. Ich bin für Realismus ohne Ressentiments.
Gabriel wirft der SPD indirekt auch mangelnde Bodenständigkeit vor.
Es ist gut, wenn auch Sigmar Gabriel, der die Politik der SPD in den letzten acht Jahren maßgeblich geprägt hat, über die Erneuerung der SPD nachdenkt.
Fällt bei Ihnen die Weihnachtspause wegen der Sondierungen aus?
Wenigstens die Weihnachtstage werde ich mir Zeit nehmen für meine fast sieben Jahre alte Tochter und auch für mich selbst, um zum Nachdenken zu kommen. Und um mal wieder was Schönes zu kochen (lacht). Ich weiß: Ab Januar wird es umso heftiger werden.
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