Hunderte im Chemiewerk Azot eingekesselte Zivilisten sollen über einen Fluchtkorridor aus der schwer umkämpften ostukrainischen Stadt Sjewjerodonezk gelangen. Doch der für Mittwoch von Russland angekündigte Weg soll nur in das von prorussischen Separatisten kontrollierte Gebiet führen, wie der Vertreter des russischen Verteidigungsministeriums, Michail Misinzew, am Dienstag klarmachte. Sjewjerodonezk steht weiter im Fokus der verlustreichen Kämpfe zwischen Russland und der Ukraine.
Für den zähen Abwehrkampf seines Landes forderte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj deutlich mehr Unterstützung des Westens. „Wir müssen noch viel mehr gemeinsam tun, um diesen Krieg zu gewinnen“, sagte Selenskyj der Zeit in einem Interview.
Auf die Frage, ob er sich vom deutschen Kanzler Olaf Scholz die klare Formulierung wünsche, die Ukraine müsse den Krieg gewinnen, sagte er, Russlands Präsident Wladimir Putin hasse die Idee eines freien und vereinten Lebens in Europa, und seine Soldaten hielten dagegen. „Also sagt, was ihr wollt und wie ihr es wollt, aber helft uns. Bitte.“ Scholz, der französische Präsident Emmanuel Macron und Italiens Regierungschef Mario Draghi könnten schon Mitte der Woche die Ukraine besuchen. Eine offizielle Terminangabe steht aber aus.
Derweil beklagt die Regierung in Kiew, dass die Ukraine vom Westen erst rund zehn Prozent der von ihr angeforderten Waffen erhalten habe. „Egal wie sehr sich die Ukraine bemüht, egal wie professionell unsere Armee ist, ohne die Hilfe westlicher Partner werden wir diesen Krieg nicht gewinnen können“, sagte die stellvertretende Verteidigungsministerin Anna Maljar am Dienstag im ukrainischen Fernsehen.
Die schleppenden Waffenlieferungen müssten beschleunigt werden, forderte sie weiter. „Denn jeder Tag der Verzögerung ist ein weiterer Tag gegen das Leben der ukrainischen Soldaten, unseres Volkes.“ Es bleibe nicht viel Zeit.
Zivilisten zu Flucht in besetztes Gebiet gezwungen
Nachdem die dritte und damit letzte Brücke der Stadt Sjewjerodonezk über den Fluss Siwerskyj Donez zerstört wurde, wachsen die Sorgen um die in der Stadt verbliebenen Zivilisten. Die Lage rund um das Chemiewerk Azot sei besonders schwer, sagte der Chef der städtischen Militärverwaltung, Olexander Strjuk, im ukrainischen Fernsehen. Auf dem Werksgelände sollen in Bombenschutzkellern bis zu 560 Zivilisten ausharren. „Gewisse Vorräte wurden im Azot-Werk geschaffen“, sagte Strjuk. Zudem leisteten Polizisten und Militärs Hilfe. Das Gelände stehe aber unter ständigem Beschuss, die Straßenkämpfe dauerten an.
Die Situation in dem Werk erinnert an jene der Hafenstadt Mariupol im Südosten der Ukraine, wo sich im Asovstal-Werk ukrainische Soldaten und Zivilisten verschanzt hatten. Inzwischen ist die Stadt inklusive des Stahlwerks unter russischer Kontrolle. Der von Russland für Mittwoch angekündigte Fluchtkorridor soll in nördliche Richtung in die Stadt Swatowe (Swatowo) im Gebiet Luhansk führen, das von russischen Truppen kontrolliert wird.
Unterdessen kündigte der russische Energieriese Gazprom an, die maximalen Gasliefermengen durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 nach Deutschland um 40 Prozent zu reduzieren. Als Grund nannte Gazprom Verzögerungen bei Reparaturarbeiten durch die Firma Siemens. Für Deutschland ist Nord Stream 1 die Hauptversorgungsleitung mit russischem Gas. (dpa)
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