Die deutschen Sozialdemokraten der SPD wählen am Sonntag bei einem Sonderparteitag erstmals in ihrer 155-jährigen Parteigeschichte eine Frau zur Vorsitzenden. Der Abstimmung in Wiesbaden stellen sich Bundestagsfraktionschefin Andrea Nahles (47) und die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange (41). Nahles gilt als Favoritin, Lange wirft ihr fehlende Basisnähe vor. In Parteikreisen wurde als Ziel für Nahles ein Ergebnis von 75 Prozent plus X genannt.
Lange forderte einen von der großen Koalition unbelasteten Neuanfang. Die SPD habe in den letzten Jahren so viele Wahlen verloren, «weil sie ihre Arbeit immer über die große Koalition definiert hat», sagte die Flensburger Oberbürgermeisterin der Deutschen Presse-Agentur. «Es gab immer eine Personalunion zwischen Regierungsbeteiligten und Parteivorsitzendem. Wir müssen das trennen, wir müssen der Partei ein Stück weit einen eigenen Kopf geben, der weder an Fraktion noch Regierung beteiligt ist.» Als erstes Projekt wolle sie im Falle einer Wahl zur Parteivorsitzenden eine «180-Grad-Kehrtwende» bei den Reformen der Agenda 2010 und Hartz IV einleiten. «Wir müssen wegkommen vom Sanktionieren, hin zu einem System, das neue Anreize schafft.»
Gleiches Recht für alle
Am Rande der Vorstellung von Nahles und Lange im Vorstand vor dem Sonderparteitag wurden von beiden Seiten Vorwürfe erhoben. Aus der SPD-Spitze hieß es, sie habe wiederholt gelogen, etwa bei Vorwürfen, sie werde bewusst benachteiligt bei der Vorstellung ihrer Kandidatur. Schließlich wurde beschlossen, dass sich beide 30 Minuten lang den 600 Delegierten vorstellen dürfen, Lange wird dabei als erste reden.
Lange versuche einen Konflikt, «die da oben, wir da unten» zu inszenieren und neue Unruhe zu schaffen, hieß es aus Parteikreisen. Mit Spannung wurde das Wahlergebnis erwartet – Nahles ist bisher durch ihre mitunter polarisierende, den Konflikt nicht scheuende Art ohnehin kein Parteiliebling – auch bei den Bürgern. 2007 erzielte sie mit 74,8 Prozent bei der Wahl zur Vizevorsitzenden ihr bislang bestes Ergebnis.
Was sagt Schulz?
Es ist in der Geschichte der Bundesrepublik erst die zweite Kampfkandidatur bei einem SPD-Bundesparteitag – Oskar Lafontaine hatte 1995 – unterstützt von der damaligen Jusos-Chefin Nahles – den Vorsitzenden Rudolf Scharping gestürzt. Es wird erwartet, dass auch der frühere EU-Parlamentspräsident und Parteichef Schulz in Wiesbaden reden wird. Spannend dürfte dann werden, ob er sich kritisch äußern wird zum bisherigen Bremsen der großen Koalition bei Europa-Reformen.
Bei der Bundestagswahl waren die Sozialdemokraten auf 20,5 Prozent abgestürzt, gerade in Ostdeutschland ist die einstige linke Volkspartei von der rechtspopulistischen AfD überrundet worden. Nahles hat einen umfassenden Erneuerungsprozess versprochen, parallel zur Regierungsarbeit in der großen Koalition. Die Parteispitze erhofft sich ein Aufbruchsignal. Von dem Delegiertentreffen müsse ein Startsignal ausgehen, «dass wir mit Volldampf in die Erneuerung gehen», hatte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin und Vize-Vorsitzende, Malu Dreyer, am Samstag gesagt. SPD-Vize Manuela Schwesig sagte: «Die SPD muss wieder stärker werden auf Bundesebene. Wir können uns mit den derzeitigen Umfragen nicht zufriedengeben.»
Es ist nach einem turbulenten Jahr der fünfte SPD-Parteitag in 13 Monaten. Nach dem unter großen Bauchschmerzen erfolgten Eintritt in die große Koalition war der umstrittene Vorsitzende Schulz zurückgetreten, kommissarisch übernahm SPD-Vize Olaf Scholz das Amt.
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