Eine musikalische Hommage
FRIGHTENED RABBIT
Tiny Changes – A Celebration Of Frightened Rabbit’s „The Midnight Organ Fight“
Am 9. Mai 2018 wurde Frightened- Rabbit-Frontmann Scott Hutchison als vermisst gemeldet. Familienangehörige und Freunde sorgten sich um ihn, nachdem er auf Twitter gepostet hatte: „Be so good to everyone you love. It’s not a given. I’m so annoyed that it’s not. I didn’t live by that standard and it kills me. Please, hug your loved ones.“ Darauf folgte noch ein letzter Tweet: „I’m away now. Thanks.“ Einen Tag später wurde in Edinburgh Hutchinsons Leiche entdeckt. Er wurde nur 36 Jahre alt.
Mit seinem Tod ging die Geschichte von Frightened Rabbit aber noch nicht zu Ende. Denn für die Compilation „Tiny Changes – A Celebration Of Frightened Rabbit’s ‹The Midnight Organ Fight’“ haben diverse Bands und Künstler Songs des zweiten Studioalbums der schottischen Indieband gecovert. Die Idee dahinter war laut Frightened Rabbit folgende: „Um den zehnten Geburtstag von ‹The Midnight Organ Fight› zu feiern, haben wir versucht, die üblichen Vorgänge zu vermeiden: Neupressungen des Vinyls, Neuveröffentlichung des Albums mit neuem Artwork und mit Bonussongs oder Demos, die sowieso nie für andere Ohren bestimmt waren als unsere eigenen. Wir haben dafür ein paar Freundinnen und Freunde gefragt, ob sie nicht ihre eigenen Interpretationen der Songs aufnehmen möchten. Es fühlte sich nach einer guten Art an, alle zu ehren und zu feiern, die in den letzten zehn Jahren ein Teil unserer Bandgeschichte waren.“
Biffy Clyro legen mit „The Modern Leper“ lautstark los und verleihen dem Original noch mehr Energie. Josh Ritter trumpft mit Banjo, Violine und Chorgesängen in dem beschwingten Country-Song „Old Old Fashioned“ auf und The Philistines Jr. verwandeln „Bright Pink Bookmark“ in ein elektronisches Klangspektakel mit 80er-Jahre-Ästhetik. Benjamin Gibbard (Death Cab For Cutie) hat sich für „Keep Yourself Warm“ entschieden, dessen Kernzeilen immer noch so trefflich sind: „No you won’t find love in a / Won’t find love in a – hole / It takes more than fucking someone / To keep yourself warm.“
Die Indieband Daughter hat sich „Poke“ ausgesucht und dank Elena Tonras Stimme eine Coverversion erschaffen, die problemlos in den eigenen Songkatalog passt. Die eng mit Frightened Rabbit verbundenen The Twilight Sad haben „Floating In The Forth“ auf ihre Art neu eingespielt. Für eine beseelte Version von „My Backwards Walk“ haben sich Katie Harkin (Sky Larkin) und die Schauspielerin Sarah Silverman zusammengetan. Manchester Orchestra haben den Song auf stilistisch ähnliche Art aufgenommen, aber doch anders. Tiny changes eben. Schade, dass nun das Kapitel Frightened Rabbit wahrscheinlich zu Ende erzählt ist.
Kai Florian Becker gibt 10 von 10 Punkten.
Intelligent und spirituell
KATE TEMPEST
The Book Of Traps And Lessons
Überall passieren irrsinnige Dinge, über die man nur den Kopf schütteln kann – global wie lokal. Da tut es gut, wenn Künstlerinnen und Künstler intelligente wie spirituelle Alben veröffentlichen, die einem in diesen trüben, ruhelosen Zeiten Trost spenden und etwas Hoffnung geben, dass man mit seinen Sorgen und Ängsten nicht alleine ist.
Kate Tempest, die eigentlich Kate Esther Calver heißt und auch Buch- und Theaterautorin sowie Spoken-Word-Künstlerin ist, hat gerade ein solches Album veröffentlicht: „The Book Of Traps And Lessons“. Nach ihren wortgewaltigen Werken „Everybody Down“ (2014) und „Let Them Eat Chaos“ (2016), die beide für den renommierten britischen Musikpreis „Mercury Prize“ nominiert wurden, stellt sie diesmal ihre lyrische Kunst ganz in den Vordergrund.
Das Album kann unter dem Motto „Hold Your Own“ (Behaupte dich) zusammengefasst werden, wie Andreas Borcholte von Spiegel online feststellte. Tempest ist derzeit im britischen Pop DAS sozialkritische Sprachrohr; viele schauen zu ihr auf, da ihre Texte die Leute wachrütteln (könnten) – insbesondere ihre Landsleute, die mitten im Brexit-Chaos stecken.
Die 33-Jährige hat sich so viel von der Seele reden müssen, dass „The Book Of Traps And Lessons“ kein Hip-Hop-Album im eigentlichen Sinne wurde. Es ist ein intelligentes, spirituelles Spoken-Word-Album, das mit dezenter Musik unterlegt wurde – genauer gesagt mit Beats, Synthesizern und Streichern – oder ganz ohne auskommt („All Humans Too Late“).
Kein anderer als Produzent Rick Rubin (Beastie Boys, Slayer, Johnny Cash) hat sie zu diesem minimalistischeren Stil ermuntert. Wer die Stücke bzw. Texte hört, wird Tempests Leidenschaft und Intensität spüren und feststellen können, dass sie vielen aus der Seele spricht. Dafür reichen schon die faszinierende Auskopplung „Fire smoke“ und der Song „All Humans Too Late“, in dem sie fragt: „But what’s to be done / when the only way to defend ourselves / from what we’ve created is to merge with it? / What can be done to stay human?“ Gute Frage.
Kai Florian Becker gibt 10 von 10 Punkten.
Tolle Orchestermusik,
glanzlose Interpretation
FRITZ BRUN
Complete Orchestral Works
Kennen Sie den Schweizer Komponisten Fritz Brun? Nein? Dann legen Sie sich unbedingt diese elf CD starke Box zu. Fritz Brun war einer der bedeutendsten Schweizer Komponisten des 20. Jahrhunderts.
Die vorliegende Edition beinhaltet sämtliche Orchesterwerke – neben den zehn Sinfonien auch das Klavier- und das Cellokonzert, die Ouvertüre und die Sinfonischen Dichtungen. Brun lebte von 1858 bis 1959 und schrieb unter anderem zehn Symphonien. Seine Musiksprache ist vielseitig und eigen ständig, wobei man regelmäßig Einflüsse von Schumann und Bruckner bemerkt. Trotzdem entwickelt Brun seine Einfälle sorgsam, so dass wir in seiner Musik mal leichte Gestik, mal augenzwinkernden Scherz, mal dramatisch-expressiven Ausdruck finden. Ergänzt werden die zehn hörenswerten Symphonien von Orchesterliedern, Chorstücken, einem Klavier- und einem Cello konzert sowie anderen orchestralen Einzelwerken.
Wir empfehlen diese Box allerdings in erster Linie wegen der an sich originellen Musik, die sehr oft hellhörig macht. Allerdings besitzt sie nicht die Qualität, um sich einen Platz im Repertoire zu sichern. Aus interpretatorischer Sicht wäre sicher noch Luft nach oben gewesen. Der Schweizer Dirigent Adriano, Autodidakt und ehemaliger Sach bearbeiter für Banken und Versicherungen, war zudem lange Jahre als „Maestro suggeritore“ (dirigierender Souffleur) am Opernhaus Zürich tätig. Für Naxos und Marco Polo realisierte Adriano rund 50 Aufnahmen als Dirigent, darunter diese tolle Brun-Box, die er zwischen 2003 und 2015 aufnahm.
Adrianos Dirigat ist in Ordnung, er leitet die Orchester geradlinig und sicher, ohne aber jetzt die Raffinessen herauszukitzeln, die Bruns Musik zusätzlich verdient hätte, oder gar die Orchester zu einem dynamischen, lebendigen Spiel anzufeuern. Und so spielen die Musiker des Moscow Symphony Orchestra und des Bratislava Symphony Orchestra quasi nur vom Blatt ab, ohne sich sonderlich viel Mühe zu geben oder gar vom Dirigenten herausgefordert zu werden.
Viel zu zahm, viel zu trocken und ohne jeglichen Anflug von Brillanz erwartet den Hörer somit nur eine recht bescheidene Interpretation. Die Aufnahmequalität ist wie das Spiel der beiden Klangkörper ebenfalls mittelmäßig und vermag an keiner Stelle der Klangwelt von Bruns Musik wirklich gerecht zu werden. Interessant und interpretatorisch viel besser sind die zusätzlichen Aufnahmen der „8. Symphonie“ mit dem Studio-Orchester Beromünster unter Fritz Brun und der „Variationen über ein eigenes Thema für Streichorchester und Klavier“ mit Adrian Aeschbacher am Klavier und dem Collegium Musicum Zürich unter dem legendären Paul Sacher.
Beide sind historische Aufnahmen aus dem Jahr 1946. Alles in allem aber macht diese Box Spaß, weil der Hörer hier einmal wirkliches Neuland im Sinne der großen romantischen Tradition betreten kann.
Alain Steffen gibt 6 von 10 Punkten.
Korrigierte Fassung:
Diese Rezension eines Herrn Steffen ist qualitativ jedenfalls weitaus schlechter als die besprochene Brun-Box.
Da sind faktische Fehler: z. B. sind die hier bei Brillant als Box veröffentlichten Einspielungen unter Adriano nicht bei Naxos oder Marco Polo, sondern bei den Labels Guild und Sterling erschienen.
Oder Auslassungen: Die Information wäre vielleicht nicht uninteressant, daß die Erben von Fritz Brun 2003 von der ersten Einspielung Adrianos dermaßen begeistert waren, daß sie nach und nach diese Gesamt-Einspielung finanziert haben -- und das, obwohl ja zumindest einige Brun-Sinfonien von anderen bekannten Dirigenten in vereinzelten Rundfunkaufnahmen erhalten sind, die man ja (wie die hier beigegebene Bonus-CD, die dem Komponisten Brun als Dirigent ein Denkmal setzt) auch stattdessen auf Tonträger hätte bannen können.
Und dann ist da der befremdlich anmutende Schreibstil des Herrn Steffen, der darauf abzuzielen scheint, die Person des Dirigenten Adriano zu diffamieren -- dessen Werdegang man nicht nur auf seiner eigenen Website, sondern auch aus Interviews renommierter internationaler Musikjournalisten in ebensolchen Medien eruieren kann.
Zusätze wie "Autodidakt, ehemaliger Sachbearbeiter bei Banken und Versicherungen", die aus einem mehr als dürftigen Wikipedia-Artikel abgeschrieben wurden, sagen aber ja überhaupt nichts über seine Qualitäten als Dirigent!
Würde Herr Steffen die Partituren von Fritz Brun kennen, wüßte er vielleicht, daß man diese aufgrund ihrer enormen Schwierigkeiten eben nicht vom Blatt spielen kann - und wer Adriano von früheren Aufnahmen kennt, weiß, mit welch enormer Sorgfalt dieser Musiker seine Projekte vorbereitet und auch die Brun-Einspielungen nicht ohne ausreichend Probenzeit angegangen wäre.
Wenn Herr Steffen genauer hinsieht, erkennt er vielleicht sogar, daß manches, was auf den ersten Blick etwas befremdlich klingt, eben genau so in der Partitur steht.
Schließlich: Kein Wort von Herrn Steffen über die Interpretationen im Einzelnen, nichts, was dem Leser einer solchen Rezension wirklich dienlich wäre. Man bekommt den Eindruck, daß er in die Box allenfalls hineingehört hat.
11CDs mit über 12 Stunden Spielzeit, zumal mit den Rezensenten völlig unbekannten Werken, müssen den Anspruch erheben, zunächst einmal gründlich und möglichst mehrmals gehört zu werden, bevor man sich ein Urteil erlaubt.
Eine derart flapsige Empfehlung wie die des Herrn Steffen ist des Tagblatts nicht würdig - der eigenwilligen, sehr guten Musik von Fritz Brun erst recht nicht - und gegenüber einem Dirigenten, der heuer 75 Jahre alt wird (!), sich für die Kunst unter widrigsten Bedingungen lebenslang als Komponist, Arrangeur, Labelchef, Produzent und Autor den A... aufgerissen und als Dirigent so herrliche Werke wie Respighis "La Primavera" in wirklich Maßstäbe setzenden Interpretationen hinterlassen hat, schlicht eine Unverschämtheit!
Dr. Felix Sander, Wien