Klagelieder: MARIANNE FAITHFULL – Negative Capability
Endlich mal wieder ein Album von einem unserer Helden der 60er Jahre, das die Bezeichnung „würdevolles Alterswerk“ verdient.
In den Klageliedern Jeremias trauert der Prophet im Alten Testament über die Zerstörung der heiligen Stadt Jerusalem; in den Klageliedern Gustav Mahlers vertonte der österreichische Komponist um 1904 die Gedichtsammlung „Kindertotenlieder“ von Friedrich Rückert.
Die, die Marianne Faithfull auf ihrem neuesten Album „Negative Capability“ veröffentlicht hat, sind Abschiedslieder für ihre Freundin Anita Pallenberg, die langjährige Partnerin von Keith Richards, und für den Gitarristen Martin Stone. Im Unterschied zum oben erwähnten Trauergesang im sakralen Bereich ist das Lamento der 71-jährigen Engländerin jedoch kein wehleidiges Jammern oder Flehen um Gnade, sondern eindringliche, tapfere, grundehrliche Introspektion, wie immer rau und kehlig vorgetragen.
Alle zehn Songs kreisen um das Thema Tod und Vergänglichkeit und man wird den Eindruck nicht los, dass sich Faithfull dabei auch mit dem eigenen Tod auseinandersetzt, ähnlich wie Leonard Cohen in seinem letzten Werk „You Want It Darker“. Sogar, oder vielleicht vor allem dann, wenn sie Stücke wiederaufnimmt, die sie vor 50 Jahren gesungen hat. Dazu gehören ihr erster Hit, das von Jagger/Richards für sie geschriebene „As Tears Go by“ und Dylans „It’s All Over Now, Baby Blue“. Beim Komponieren und Einspielen des neuen Materials haben ihr, wie so oft, einige geniale Verehrer geholfen: diesmal in erster Linie die Multi-Instrumentalisten Ed Harcourt und Warren Ellis, aber auch Nick Cave hat an zwei der besten Songs „Misunderstanding“ und „The Gypsy Faerie Queen“ mitgewirkt.
Den allerbesten hat sie zusammen mit Mark Lanegan geschrieben. Er heißt „They Come at Night“ und bezieht sich auf den Terroranschlag vor rund vier Jahren aufs Pariser Bataclan. Knapp 40 Jahre nach ihrer Abrechnung mit Ulrike Meinhof, die sie in „Broken English“ dazu aufforderte, in ebendieser Sprache Stellung zu den sinnlosen Morden der RAF zu beziehen, ist der Terror des „Islamischen Staates“ nun in ihren Texten angekommen. Dabei wird einem erneut bewusst, wie sich die Ereignisse wiederholen und dass nur die vermeintliche Ideologie dahinter wechselt. Ein beklemmendes, aber sehr schönes und wichtiges Album, hoffentlich nicht ihr letztes!
WERTUNG: Gil Max vergibt neun von möglichen zehn Punkten.
Was lange währt, wird endlich …? ECHTRA – BardO
Nie zuvor ist mir eine Rezension so schwergefallen wie dieses Mal – denn mit „Sky Burial“ hat der Amerikaner Jason Joshua Phillips alias Echtra 2013 eine Göttergabe veröffentlicht, die ich heute als mein absolutes Lieblingsalbum bezeichne! Fünf Jahre später ist nun endlich der fast ebenso lange angekündigte Nachfolger da … Der erste Wermutstropfen: „BardO“ wird es vorerst nur auf Vinyl (mit Bonus-DVD!) geben. Und die Musik? Gespannt halte ich den Atem an …
Die Platte – die wie bei Echtra üblich aus einem, in zwei je 23-minütige Tracks geteilten, Song besteht – beginnt wie „Sky Burial“ und das fast genauso geniale „Paragate“ (2011) mit einem sphärischen Keyboard-Intro, gefolgt von einem langsamen Akustikgitarren-Part. So weit, so unspektakulär. Aber auch „Sky Burial“ entfaltet seine volle Wucht erst nach einigen Minuten, mit einer wundervollen Mischung aus Neofolk à la Agalloch, Ambient, Drone und Spurenelementen von („Cascadian“) Black Metal wie z.B. Wolves In The Throne Room. Phillips scheut auch nicht davor zurück, einzelne Teile extrem in die Länge zu ziehen, wenn es dem Song dient. Die letzten zweieinhalb Minuten von „I“ sowie Minute 6:25 bis 11:00 von „II“ auf „Sky Burial“ sind für mich schlicht und ergreifend (Letzteres im wahrsten Sinne des Wortes!) die schönsten, spirituellsten Momente der Musikgeschichte!
Leider reicht der Rahmen dieses Reviews nicht aus, um meine Gedanken und Gefühle beim Hören dieser Musik in Worte zu fassen. Fest steht allerdings, dass „BardO“ fast schon naturgemäß an diesem Überwerk scheitern muss. Wie sich im weiteren Verlauf herausstellt, sind die Zutaten wie erwartet dieselben geblieben. Naturverbundene, transzendentale, im Folk und Black Metal verwurzelte Musik, der man sich mit ganzer Aufmerksamkeit und Seele widmen muss. Bedauerlicherweise fehlen mir auf diesem an sich schönen Album die ganz großen Gänsehautmomente, die es auch nur in die Nähe seines Vorgängers rücken würden. Vielleicht, wenn ich meinen Plattenspieler auf einen Berg oder in einen einsamen Wald schleppe …?
WERTUNG: Steve Rommes vergibt acht von möglichen zehn Punkten.
Kastaniensammelsongs: ELEMENT OF CRIME – Schafe, Monster und Mäuse
Sven Regener schlägt zum 14. Mal seinen markanten Generalbariton an: die Melancholie des gebrannten Kindes, die Kauzigkeit des Tresenbesitzers, den Witz des alten Seebären. Wie schön!
Herbst und Winter scheinen die bevorzugten Jahreszeiten von „Element of Crime“-Kopf und Erfolgsautor Sven Regener zu sein, denn hier kommen der Spleen, aber auch der hintergründige Witz seiner wunderbaren Beschreibungen von Alltagstristesse zur vollen Entfaltung. Kostprobe gefällig? Ein Raucher ist der Nebel, ein Penner ist der Tag. Ein Loch ist da, wo gestern noch der Minigolfplatz lag. Da kommt jetzt ein Einkaufszentrum hin. Da kannst du dir was Schönes kaufen. Wenn es dunkel und kalt wird in Berlin.“
Benannt nach einem surrealen Kriminalfilm von Lars von Trier, machen der Bremer Sänger, Trompeter und Bandleader und seine Arbeitskameraden seit 33 Jahren Musik, wie nur sie sie machen können: eine eigenwillige Mischung aus Rock, Chanson und Folk, der man zwar die Einflüsse von Lou Reed, Tom Waits, Kurt Weill oder Bob Dylan entnehmen kann, die sich aber kontinuierlich zu einem einzigartigen Sound und einer ebenso einzigartigen Poesie entwickelt hat.
Spätestens seit ihrem fünften – und gleichzeitig ersten deutschsprachigen – Studioalbum „Damals hinterm Mond“ aus dem Jahr 1991 gehört Element Of Crime zu den besten deutschen Bands überhaupt und kann seit Langem auf eine eingeschworene, treue Fangemeinde zählen. Die ist wieder restlos begeistert, denn auf dem neuesten Werk „Schafe, Monster und Tiere“ findet sie alles, was sie an Regener und Co. liebt: die mal traurigen, mal euphorischen Trompetenklänge des Chefs, das Vaudeville-Akkordeon Ekki Buschs, die jazzigen Gitarrenfiguren Jakob Iljas, der sich auch mal eine Ukulele oder Mandoline greift, wenn’s der Stimmung des jeweiligen Songs dient.
Hinzu kommen sehr schöne Streicher- und Bläserarrangements und dezente Chöre, bei denen unter anderem Regeners Tochter Alexandra mitwirkt. Mit Ausnahme des Bierzelt-Walzers „Immer noch Liebe in mir“, der einem bereits beim zweiten Hören brutal auf den Zeiger geht, ist die Musik durchweg schön und entspannend, und doch stehen wie immer die genialen Texte Regeners über allem: der trockene Humor und Sarkasmus, immer lakonisch, aber nie larmoyant.
„Siehst du den Stein auf der Straße? Der ist klein, schmutzig und schwer. Der liegt dort, weil keiner ihn haben will. Aber auch, weil er niemanden stört. Den wird irgendwann einer werfen. Gegen wen oder was, ist nicht klar. Und der Stein wird das erste Mal fliegen. Und findet das ganz wunderbar.“ Wir auch!
WERTUNG: Gil Max vergibt acht von möglichen zehn Punkten.
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