Von Dr. Inna Ganschow, Historikerin
Siebzig Jahre nach dem Kriegsende wollte sich ein ehemaliger Zwangsrekrutierter auf die Suche nach einem seiner Leidesgenossen unter den ca. 4.000 ehemals in der Luxemburger Industrie und Landwirtschaft beschäftigten russischen Zwangsarbeitern begeben. Die Lebenswege der Zwangsrekrutierten und der sowjetischen Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen, deren Schicksale sich im Zweiten Weltkrieg kreuzten, stehen u.a. im Mittelpunkt der aktuellen Forschung des C2DH.
René Englebert (1926-2016) hat in der Zeitung über die Ostarbeiter und Ostarbeiterinnen in Luxemburg gelesen. Es ging um das Lager in Schleifmühle. «Dort war doch Kyrill», dachte Englebert. Er holte den Schuhkarton mit den alten Fotos aus der Schublade, suchte mit auf einmal zitternden Händen nach dem Umschlag mit der Aufschrift «Gare 1944». Sie waren noch da, ein Dutzend. Und «Kyr» ist überall drauf. Dann suchte er nach der Redaktionsnummer in der Zeitung, wählte die Nummer, hörte eine ganze Ewigkeit der Ansage in drei Sprachen zu. Endlich nahm jemand Lebendiges den Hörer ab. «Jo, moien, es geht um die Russen in Schleifmühle. Ich habe mehr Informationen», sagte Englebert. Dann diktierte er seine Nummer. Zwei Mal, zur Sicherheit. Er legte den Hörer auf, wollte aber nicht vom Telefon weggehen, als ob ihn nicht die Redaktion gleich zurückrufen würde, sondern sein alter ukrainischer Kriegsfreund Kyr, der von dem Foto auf ihn schaute, als wäre es gestern aufgenommen.
Mit Gestik und Mimik
Englebert flog 1941 vom Lyzeum, als er sich weigerte, der Hitlerjugend beizutreten. Er war nicht der Einzige. Auch die Mädchen, die sich dem Bund Deutscher Mädel nicht anschließen wollten, wurden zur Strafe dienstverpflichtet. René landete bei der Bahn. «Ab 1942 kamen die gefangenen Russen, bei denen ich schnell paar Worte gelernt habe: ‹Choroscho!› und ‹Davaj!›, d.h. ‹gut!› und ‹los!›, glaube ich», so Englebert.
Die Gefangenen lernten auch schnell genug Deutsch – die einzig erlaubte Kommunikationssprache. Auch wenn generell jegliche Kontakte unterbunden wurden, konnten sie sich mit den Luxemburger Kollegen verständigen und sich sogar anfreunden. Renés Arbeitsfreund hieß Kyrill, «Kyr» genannt. Sie machten hinter den Rücken der Deutschen mit Gestik und Mimik Witze. Englebert war groß und selbstsicher. Kyr – klein, sprach gebrochen Deutsch und tat ihm trotz seiner tapferen und witzigen Art irgendwie leid. René schenkte Kyr den Mantel seines Vaters.
«Wir waren so jung! Schauen Sie mal das Foto an. Wir haben uns am 1. Mai 1944 aus Protest heimlich fotografieren lassen, weil man uns am Tag der Arbeitersolidarität zur Arbeit zwang.» Englebert schiebt aus seiner Sammlung ein Gruppenfoto rüber und zeigt mit dem Finger auf den Kleinen mit der Kosakenmütze in der Mitte – das ist Kyr. Englebert ist auf dem Foto frech grinsend mit einer auf die Seite geschobenen Mütze abgebildet – vorne an der Lokomotive.
Von der Ukraine nach Luxemburg
Info
Das Lager Schleifmühle wurde in der Silvesternacht 1944/45 angesichts des drohenden Rückzugs der Wehrmacht aufgelöst.
55 Menschen sind hierzulande auf unterschiedlichen Friedhöfen beerdigt, davon fünf Kinder unter sechs Jahren. Am Bonneweger Friedhof ruhen zwölf Personen, fünf von ihnen kamen am selben Tag um wie Kyrill Tschajka.
Die eine Andachtstafel zu Ehren der Gefallenen gab es in Schleifmühle, solange es dort das Lager gab. Die andere – beantragt von der Elternvereinigung der Zwangsrekrutierten und 1947 von der Stadtverwaltung bewilligt – wurde am Bahnhof wohl nie angebracht.
Da wusste er noch nicht, dass er im Juli 1944 zwangsrekrutiert, sich im April der Roten Armee in Polen ergeben und erst im Oktober 1945 nach Hause kommen wird. In jenem Mai, als sich die Lebensgeschichten der Zwangsrekrutierten und sowjetischen Zwangsarbeiter kreuzten, ahnte keiner, wie verwoben die Schicksale der Gefangenen auf beiden Seiten werden.
Kyr war aus der Ukraine ins Reich verschleppt worden. Englebert weiß noch, dass er aus Dnepropetrowsk kam. «Wissen Sie zufällig, wie man etwas über ihn herausfinden könnte? Ich wollte es schon immer machen. Leider weiß ich seinen Nachnamen nicht. Vielleicht ist er noch am Leben? Ich denke letzte Zeit oft über ihn nach, wenn ich spazieren gehe. Ich habe ihn damals so plötzlich aus den Augen verloren …», sagt Englebert und geht voran zum Friedhof in Bonneweg, der nur ein paar Schritte von seinem Haus entfernt liegt.
Hier sind einige sowjetische Bürger und Bürgerinnen begraben, die im Zweiten Weltkrieg auf dem Territorium des besetzen Luxemburg umgekommen sind und die man nach dem Tod identifizieren konnte. Die meisten in diesem Grab kamen beim Bombardement am 9. und 11. Mai 1944 in der Nähe vom Bahnhof ums Leben, als die Luftstreitkräfte der Alliierten das feindliche Eisenbahnnetz ins Visier nahmen, wo aber auch Zwangsarbeiter eingesetzt waren.
Die Suche nach einer Person ohne Nachnamen und Geburtsdatum gestaltete sich schwierig. Die CFL sieht sich nicht als Nachfolger der Reichbahn. Auch die Deutsche Bahn tut es nicht. Von dieser Vergangenheit distanziert sich Luxemburg aus administrativen Gründen und Berlin aus geografischen. Die sowjetischen Eisenbahn-Arbeiter, die Gleise reparierten, Wagen putzten und während des Bombardements umkamen, weil sie nicht in den Schutzkeller gehen durften, scheint kein Unternehmen mehr dokumentiert zu haben.
«Ich erinnere mich an diese schrecklichen Bombardements», Engleberts Stimme wird anders. «Es gab zwei Arten von Flieger-Alarm. Nur bei einem durften die Luxemburger Dienstverpflichteten in den Schutzkeller gehen. Die Russen durften das bei keinem Alarm … Sie versteckten sich hinter einem Stein, unter einem Fass, machten die Ohren zu und rollten sich zusammen», erzählt Englebert, als er vor dem Mahnmal am Friedhof in Bonneweg steht.
Das Wunder der Regionalarchive
Dann ein Glücksfund. Das Landesarchiv Saarbrücken hat etwa 7.000 Arbeiterkarteikarten der Reichbahnangestellten aufbewahrt, die aus den Kriegsjahren stammen. Unter den vielen Einsatzorten in der Großregion ist auch Luxemburg zu finden. Verstaubt, auf brüchigem Karton mit teilweise unlesbarer Schrift oder verblassten Tinten bewahren die Karten komisch klingende Namen, die aus dem Russischen, Ukrainischen und Weißrussischen transliteriert wurden. Wenn man sie durchgeht und die mit Vermerk «Luxemburg» und «Ostarbeiter» herausfischt, sie einscannt und dann in eine Datenbank eingibt, bekommt man nach einigen Tagen ein volles Bild.
Von 150 Personen, die in den Lagern in Schleifmühle, Bonneweg, Pettingen und dem angrenzenden Wellen untergebracht waren, waren 35 Frauen und 115 Männer. Der jüngste von ihnen war zwölf – der Lehrling Jakow G. aus Rostow-am-Don. Die jüngsten Frauen sind 15 und 16, sie stammten aus Kursk und Stalingrad und wurden in der Bahnwarterei als Hilfsschlosserinnen und Kriegsaushilfsarbeiterinnen eingesetzt. Aus Dnjepropetrowsk kommen 27 Personen. Ein Kyrill ist auch auf der Liste – ein 26-Jähriger, geboren im Dnjepropetrowsk benachbarten Gebiet.
Die spärlichen Daten seiner Arbeiterkarte geben nicht viel her: Kyrill Tschajka ist irgendwo zwischen Elsass, Saar und Lothringen gelandet – das zuständige Sozialbüro der RBD befand sich in Straßburg. Am 6. März 1944 kam er zusammen mit anderen 37 Arbeitern ins Lager Schleifmühle nach Luxemburg. Hier war er als Wagenputzer an der Reichsbahn eingesetzt. Bei den anderen steht «Lokputzer», «Wagenreiniger», «Kohle laden», «Bahnunterhaltung» und «Betriebsarbeiter». Am 1. Mai 1944, als Kyr und René sich fotografieren ließen, wurde ein Eintrag über seine Versicherung gemacht. Anstelle der Unterschrift findet sich ein Kreuzchen – wie bei den vielen, die nie schreiben gelernt haben.
Die Freunde sind vereinigt
Englebert sortiert die Fotos, dreht jedes um, liest die Aufschrift vor, dreht es wieder, legt zur Seite. Sucht auf jedem von ihnen den Kleinen mit der witzigen Kosakenmütze: «Ich stelle mir öfters vor, was aus ihm wohl geworden ist. Manchmal habe ich das Gefühl, als ob er mich nie verlassen hat. Er ist immer in meinem Herzen.» Englebert schaut zum Fenster und schweigt. Dann macht er sich wieder auf zum Spaziergang in der Nachbarschaft – durch den Friedhof und zurück. Schaut sich die Namen am Mahnmal an. Da ist auch ein Kyrill dabei. Kyrill Tschajka.
Engleberts Freund ist gefunden. Er konnte unter den beim Bombardement umgekommenen Bahnarbeitern gefunden werden. Am 9. Mai 1944 umgekommen – genau vier Monate vor der Befreiung Luxemburgs und genau ein Jahr vor Kriegsende. Englebert hat ihn nicht aus den Augen verloren. Er war die ganze Zeit da – in seinem Herzen und auf dem Friedhof um die Ecke, täglich besucht von seinem Luxemburger Freund. Seit dem letzten Jahr sind die Freunde vereinigt – René Englebert starb am 26. Oktober 2016 und ruht auf dem Friedhof in Bonneweg in der Nähe seines alten Freundes Kyr.
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