Am 1. September werden die Präsidenten Polens und Deutschlands gemeinsam des Beginns des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren gedenken. Die Zeremonie in dem von deutschen Bombern zerstörten Wielun soll im Zeichen der Versöhnung stehen. Es gibt aber eine offene Rechnung.
Als Zofia Burchacinska am 1. September 1939 gegen 4.40 Uhr von den Motoren der deutschen Bomber geweckt wird, glaubt sie, es seien die Kühe. Niemand in der kleinen polnischen Stadt Wielun, damals nur 21 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, rechnet zu diesem Zeitpunkt mit einem Angriff. Es gibt keine Kriegserklärung, keine Warnung der polnischen Behörden. Die Mutter der elfjährigen Zofia sagt noch, es sei wohl eine Übung. «Du stehst besser auf.» Im nächsten Moment gibt es einen lauten Knall, ein Teil der Decke stürzt ein, die Fenster bersten. Zofia rettet sich mit einem Sprung in den Hinterhof.
Es ist der Beginn des Zweiten Weltkriegs, der sich am 1. September zum 80. Mal jährt. Schon wenige Minuten bevor in Danzig von der SMS «Schleswig-Holstein» die ersten Schüsse auf ein polnisches Munitionslager auf der Halbinsel Westerplatte abgefeuert werden, fallen die ersten Bomben auf Wielun. Gleich am Anfang wird ein Krankenhaus getroffen. Es gibt erste Tote. Sechs Jahre später, am Ende des verlustreichsten Krieges der Menschheitsgeschichte, werden es um die 55 Millionen oder sogar mehr sein.
In mehreren Angriffswellen werfen 29 Sturzkampfbomber vom Typ Ju-87b 380 Bomben mit 46 Tonnen Sprengkraft auf Wielun ab. Die Piloten fliegen in niedriger Höhe, um besser treffen zu können. Mit Gegenwehr müssen sie nicht rechnen: Eine Flugabwehr gibt es nicht, der Ort ist den Angreifern wehrlos ausgeliefert. Um 14 Uhr liegt eine der ältesten Städte Polens in Schutt und Asche. Von 16 000 Bewohnern sterben etwa 1200 im Bombenhagel und im Feuersturm.
Bei den jährlichen Gedenkfeiern am 1. September stand die kleine Provinzstadt zwischen Lodz und Breslau (Wroclaw) bisher stets im Schatten der Westerplatte. Das hat seinen Grund. Die beiden Orte haben eine sehr unterschiedliche Bedeutung in der polnischen Erinnerungskultur. In Danzig kämpften polnische Soldaten sieben Tage lang gegen die Übermacht der Nazis, bevor sie kapitulierten. Bis heute werden sie als Helden verehrt. Die Westerplatte steht für den tapferen Überlebenskampf der Polen gegen die deutschen Aggressoren.
«HEUTE WÜRDEN WIR ES ALS TERRORISTISCHEN AKT BEZEICHNEN»
Wielun gilt dagegen als ein Symbol für den rücksichtslosen Vernichtungsfeldzug der Nazis durch Polen und Osteuropa, der sich gezielt auch gegen Zivilisten richtete. In Wielun gab es keinen militärischen Stützpunkt, für die Grenzsicherung spielte der Ort keine Rolle, es waren keine Soldaten in der Stadt, wie Zeitzeugen versichern. Es gab auch keine Schlüsselindustrie, nur ein paar Mühlen. Polnische Historiker gehen davon aus, dass die deutsche Luftwaffe in Wielun vor allem ihre Schlagkraft testen wollte, auch wenn manches andere behauptet wurde.
«Heute würden wir das als terroristischen Akt bezeichnen», sagt der Bürgermeister der Stadt, Pawel Okrasa. Der Turm seines Rathauses war nach dem Bombardement eine Ruine und wurde erst nach dem Krieg wiederaufgebaut. Von dort zeigt der 41-Jährige, wie Wielun von den Bomberstaffeln der deutschen Luftwaffe verwüstet wurde.
«75 Prozent der Stadt wurden zerstört», sagt er. Im Zentrum sei kaum ein Haus stehen geblieben. Okrasa deutet dann auf ein weißes Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, früher eine Schule, danach von der Verwaltung genutzt. Davor wollen am 1. September um 4.40 Uhr die Präsidenten Polens und Deutschlands, Andrzej Duda und Frank-Walter Steinmeier, des Kriegsbeginns gedenken. Bevor sie weiter nach Warschau fahren, zu einer weiteren Gedenkfeier, zu der auch US-Präsident Donald Trump erwartet wird.
DEUTSCH-POLNISCHER STAFFELLAUF ALS VERSÖHNUNGSGESTE
Es ist das erste Mal, dass ein ranghoher Vertreter Deutschlands zum Weltkriegs-Gedenken nach Wielun kommt. Die Veranstaltung soll ganz im Zeichen der Versöhnung stehen. Die Staatschefs nehmen die deutschen und polnischen Schlussläufer einer Staffel in Empfang, die 12 Stunden vorher im 90 Kilometer entfernten Oppeln (Opole) startet. Aus dieser Gegend kamen damals die Bomber. Ein Fackelläufer soll eine Friedensflamme auf dem zentralen Plac Legionow, dem Platz der Legionen, entzünden.
Anschließend kommen die Staatschefs im Stadtmuseum zum Frühstück mit Zeitzeugen zusammen, darunter Zofia Burchacinska. In der Bombennacht floh sie mit ihrer Mutter von Keller zu Keller, dann barfuß durch die brennenden Straßen von Wielun und raus auf die Felder. «Meine Füße waren erst Weihnachten wieder verheilt», erzählt die 91-jährige Apothekerin heute. Das Martyrium des Krieges war für sie damit aber lange nicht vorbei. Burchacinska verlor ihren Bruder, der 1944 im Warschauer Aufstand gegen die deutschen Besatzer getötet wurde.
«FÜR MICH IST ES SCHWER ZU VERGEBEN»
Zum 75. Jahrestag dieses Aufstands sagte Bundesaußenminister Heiko Maas am 1. August 2019 in Warschau: «Ich schäme mich für das, was Ihrem Land von Deutschen und im deutschen Namen angetan wurde.» Er bat um Vergebung für die Verbrechen, die Deutsche an Polen verübt haben. Burchacinska meint zwar, dass die jüngeren Polen dieser Bitte nachkommen sollten. «Ich glaube, dass die Generationen meiner Söhne, meiner Enkel und meiner Urenkel keinen Hass gegenüber Deutschland verspüren sollten, das führt zu nichts», sagt sie. «Aber für mich ist es schwer zu vergeben.»
Als Burchacinska am 18. April 1945, nach dem Abzug der deutschen Truppen, nach Wielun zurückkehrte, erkannte sie ihre Stadt nicht wieder. «Mein Vater musste mir den Weg zur Schule zeigen», erinnert sie sich. Die Verwüstung Wieluns, die fast komplette Zerstörung Warschaus als Racheakt für den gescheiterten Aufstand: Für Zofia Burchacinska ist dieses Kapitel der deutsch-polnischen Geschichte nicht abgeschlossen. «Meiner Meinung nach sollten die Deutschen Reparationen zahlen, weil sie das ganze Land, unsere Kultur zerstört haben», sagt sie.
Burchacinska spricht damit etwas an, das die Versöhnungsgesten beim Weltkriegs-Gedenken eintrüben und die deutsch-polnischen Beziehungen in den kommenden Monaten zunehmend belasten könnte. Die rechtskonservative Regierungspartei PiS hat das Thema bereits vor einigen Jahren wiederentdeckt und geht damit immer offensiver um. Dass mit Wielun und Warschau zwei der stärksten Symbole für die Zerstörungswut der Nazis für das Gedenken am 1. September ausgewählt wurden, ist vielleicht kein Zufall.
«POLEN WURDE DISKRIMINIERT»
In ihren öffentlichen Äußerungen verschärft die polnische Regierung nach und nach den Ton. Bei der Entschädigung der von Deutschland angegriffenen Länder habe es «einen Mangel an grundsätzlicher Fairness» gegeben, sagte der polnische Außenminister Jacek Czaputowicz kürzlich der Deutschen Presse-Agentur. «Polen wurde in diesem Prozess diskriminiert.» Und Ministerpräsident Mateusz Marowiecki legte in einem Interview der Funke Mediengruppe nach: «Mehr als 1000 polnische Dörfer sind von Deutschen ausgelöscht worden. Wir werden die Summe, die wir fordern, seriös ermitteln.»
Polen hatte im Zweiten Weltkrieg gemessen an der Gesamtbevölkerung so viele Tote zu beklagen wie kein anderes Land. Vier bis sechs Millionen Polen kamen ums Leben – und damit bis zu ein Fünftel der Bevölkerung. Auch der Grad der Zerstörung durch den Vernichtungskrieg der Nazis war vergleichsweise hoch.
Im Potsdamer Abkommen von 1945 einigten sich die vier Siegermächte, dass die Sowjetunion aus der sowjetischen Besatzungszone im Osten Deutschlands entschädigt wird und Polen einen Anteil zukommen lässt. Bis 1953 wurden Schätzungen zufolge etwa 3000 Betriebe demontiert und zusätzlich Güter aus laufender Produktion abtransportiert.
Die Regierung in Warschau argumentiert aber, dass Polen seinen Anteil durch Kohlelieferungen an die Sowjetunion habe ausgleichen müssen und somit unter dem Strich nicht viel übrig geblieben sei. Außerdem sei Polen im Vergleich zu westlichen Staaten wie Frankreich und den Niederlanden verhältnismäßig schlecht behandelt worden. «Es gibt Länder, die ein Vielfaches weniger verloren haben, aber mehr Kompensation bekommen haben. Ist das in Ordnung?», fragt Czaputowicz.
Soweit die polnische Erzählung.
«RECHTLICH UND POLITISCH ABGESCHLOSSEN»
Und die deutsche? Die Bundesregierung unterscheidet sehr genau zwischen individueller Entschädigung von Opfern, die aufgrund mehrerer Abkommen bis heute fließt, und staatlichen Reparationen. An individueller Wiedergutmachung wurden 76,7 Milliarden Euro gezahlt, darunter etwa 2 Milliarden an Polen. Für die Reparationen liegen die amtlichen Schätzungen im dreistelligen Milliardenbereich. Nicht berücksichtigt sind dabei die ehemaligen deutschen Ostgebiete samt privater Vermögenswerte jenseits der Oder-Neiße-Linie.
Wo auch immer die Reparationsfrage heute neu aufgeworfen wird, hat die Bundesregierung eine Standardantwort. Sie sei «rechtlich und politisch abgeschlossen», heißt es. Die Regierung beruft sich vor allem auf den Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 über die außenpolitischen Folgen der deutschen Einheit. Darin wurden Reparationen zwar nicht erwähnt. Aber genau diese Tatsache zeigt nach Rechtsauffassung der Bundesregierung, dass es keine Ansprüche mehr gibt.
Es ist also ein juristischer Schlussstrich unter den Zweiten Weltkrieg, den Deutschland ziehen will – ein schwieriges Unterfangen, da es quasi deutsche Staatsräson ist, dass dieser Schlussstrich moralisch nie gezogen werden darf. «Die Erinnerung und die Aufarbeitung (…), die wird für uns niemals abgeschlossen sein», sagte Maas in Warschau.
Den Spagat zwischen Recht und Moral hält die Bundesregierung bisher aus. Sie weiß, dass eine riesige Welle von Ansprüchen auf sie zukommen könnte, wenn sie die Tür auch nur einen kleinen Spalt öffnet.
KRIEGSSCHÄDEN VON 7,5 BILLIONEN EURO IN 21 LÄNDERN
Kaum vorstellbare Summen stehen im Raum. Nach polnischen Schätzungen, die auf einer Bestandsaufnahme von 1946 plus Zinsen beruhen, belaufen sich die von Deutschland verursachten Kriegsschäden auf 800 Milliarden Euro. Auch Griechenland hat seine Kriegsschäden berechnet. Eine Parlamentskommission kam auf 289 Milliarden Euro inklusive einer Zwangsanleihe, die Griechenland der Deutschen Reichsbank während des Kriegs gewähren musste. Alleine bei diesen beiden Ländern summieren sich die potenziellen Ansprüche also auf mehr als eine Billion Euro.
Die Historiker Karl Heinz Roth und Hartmut Rübner machen in ihrem Buch «Verdrängt – Vertagt – Zurückgewiesen: Die deutsche Reparationsschuld am Beispiel Polens und Griechenlands», das im Oktober erscheint, eine noch viel größere Rechnung auf. Sie schätzen, dass sich die von Deutschland verursachten Kriegsschäden in insgesamt 21 Ländern zusammen auf 7,5 Billionen Euro belaufen. Die von Deutschland geleisteten Entschädigungen liegen nach ihren Erkenntnissen bei 951 Milliarden Euro. Blieben unter dem Strich also etwa 6,5 Billionen Euro. Das ist fast das Doppelte der jährlichen Wirtschaftsleistung Deutschlands. 2018 lag das Bruttoinlandsprodukt bei knapp 3,4 Billionen Euro.
Eine solche Summe zu zahlen, könne selbst einer wirtschaftlichen Großmacht wie Deutschland nicht abverlangt werden, meint Roth. Realistisch erscheint ihm die Größenordnung der bereits gezahlten Summe – also eine Billion Euro – die auf bis zu 15 Länder aufgeteilt werden sollte. Aber selbst das ist noch ein gigantischer Betrag. Pro Einwohner in Deutschland wären das etwa 12 000 Euro.
Zunächst sollten nach Ansicht Roths dafür Institutionen zur Kasse gebeten werden, die von der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg profitiert haben. Der Rest könne über einen neuen, halbierten Solidaritätszuschlag über 20 Jahre generiert werden. «Es wäre ein substanzieller Transfer in die europäische Peripherie, der den europäischen Integrationsprozess ungeheuer unterstützen würde.»
«KEINE STICHHALTIGEN JURISTISCHEN ARGUMENTATIONSLINIEN»
Roth und Rübner stehen mit solchen Ideen zur Lösung der Reparationsfrage aber ziemlich isoliert da. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags stützt in einem kürzlich veröffentlichten Gutachten die Rechtsauffassung der Bundesregierung zumindest hinsichtlich Polens. Für dessen Ansprüche seien «keine stichhaltigen juristischen Argumentationslinien zu erkennen», schreiben die Experten. Polen habe 1953 und dann nochmals 1970 ausdrücklich den Verzicht auf Reparationen erklärt, was bis heute «völkerrechtlich bindend» sei. Von polnischer Seite werden diese Erklärungen allerdings als unwirksam angesehen, weil sie auf Druck der Sowjetunion erfolgt seien.
Für Aufsehen sorgte, was die Bundestagsexperten zur deutschen Reparations-Absage an Griechenland schrieben: «Die Position der Bundesregierung ist völkerrechtlich vertretbar, aber keineswegs zwingend», heißt es in ihrem Bericht. Anders als Polen habe Griechenland nie einen Verzicht auf Reparationen erklärt. Im Gegenteil: Es habe seine Ansprüche sogar immer wieder deutlich gemacht. Der Wissenschaftliche Dienst regt deswegen eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag an, um Rechtsklarheit zu schaffen. Zu einem solchen Verfahren müsste die Bundesregierung sich aber freiwillig bereit erklären, weil sie sich in dieser Frage dem Gerichtshof nicht unterworfen hat.
Griechenland ist mit den Reparationsforderungen schon einen Schritt weiter als Polen. Anfang Juni hat die Regierung in Athen – damals noch unter dem linken Regierungschef Alexis Tsipras – Deutschland in einer diplomatischen Note zu Verhandlungen aufgefordert. Im Parlament hatte auch der neue konservative Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis für diesen Schritt gestimmt.
«VOM BUNDESPRÄSIDENTEN WÜRDE ICH GERNE EINE ENTSCHULDIGUNG HÖREN»
Die Reparationsforderung aus Athen hat damit offiziellen Charakter. In Warschau will man noch abwarten, zu welchem Ergebnis eine Parlamentskommission kommt, die 2017 eingesetzt wurde. Ihr Bericht soll praktisch fertig sein. Ob er noch vor der Parlamentswahl am 13. Oktober veröffentlicht wird, ist unklar.
Anschließend muss sich die polnische Regierung entscheiden, wie ernst sie es mit ihren Forderungen meint. Zur Frage, ob sie zur Not auch rechtlich gegen Deutschland vorgehen würde, will sich Czaputowicz noch nicht äußern. «Es ist zu früh, darüber zu diskutieren. Die Gerichte befassen sich nur mit rechtlichen Aspekten der Angelegenheit, in dieser Situation müssen aber auch Moral und Fairness eine Rolle spielen.»
Für Bundespräsident Steinmeier wird die Reise nach Polen angesichts der Reparationsdebatte wohl eine seiner bisher schwierigsten. In seiner Rede in Wielun dürfte er jedes Wort ganz genau abwägen. Nicht nur Präsident Duda und die polnische Regierung werden genau hinhören, sondern auch die Überlebenden des Bombardements von Wielun.
Die 91-jährige Zofia Burchacinska möchte auf dem Plac Legionow dabei sein. Sie hat eine konkrete Erwartung an Steinmeier: «Vom Bundespräsidenten würde ich gerne eine Entschuldigung für das Bombardement und die fast vollständige Zerstörung Wieluns hören, einer Stadt ohne Soldaten, ohne Industrie, wo die Menschen friedlich lebten.»
Deutschland hat nicht nur mit Polen eine Rechnung offen, es hat noch viele Rechnungen mit ehemaligen von den Nazis besetzten Ländern offen u.a. auch mit Luxemburg ( Besatzung, Unterdrückung, Zwangsrekrutierung, Judenverfolgung, Deportation und Verschleppung in KZs, Folterungen und Hinrichtungen usw. ). Eine offizielle Entschuldigung wäre schon nicht schlecht, auch nach über 75 Jahren. Die moralischen Schäden sind mit Geld allein nicht wieder gut zu machen.