Mit «Bandersnatch» hat «Black Mirror»-Schöpfer Charlie Brooker einen Nerv getroffen. Das interaktive Konzept ermöglicht es dem Zuschauer, in die Geschichte des Protagonisten einzugreifen, anstatt einfach nur zuzuschauen. Ob sich das Format durchsetzen wird, ist allerdings fraglich.
Der Mann schleicht mit einer Taschenlampe in ein Haus. «Hallo, ist da jemand?» Thriller-Musik ertönt. Der Zuschauer vor dem Fernseher weiß genau, dass hinter der Tür ein Monster in der Dunkelheit lauert. Er würde dem Protagonisten am liebsten zurufen, dass er sich fernhalten soll, dass dort Gefahr lauert. Doch der Mann im Fernsehen hört ihn nicht. Aber was, wenn doch? Was, wenn der Zuschauer den Protagonisten im Film erreichen kann – und ihm sagen kann, besser nicht durch die Tür zu gehen? Gute Nachricht: Genau das ist jetzt möglich. Am 28. Dezember hat der Streaming-Dienst Netflix mit «Black Mirror: Bandersnatch» einen Coup gelandet.
Der Zuschauer begleitet den jungen Videospiel-Fan Stefan Butler, der in den 80er Jahren von einer Firma beauftragt wird, seine Spielidee «Bandersnatch» zu verwirklichen (ja, damals konnte noch eine einzelne Person ein Videospiel entwickeln). Diese Idee kam Butler, als er sich in das gleichnamige Buch seiner verstorbenen Mutter vertiefte. Es handelt sich um einen «Choose Your Own Adventure»-Roman, bei dem der Leser mitentscheiden kann, wie die Geschichte weitergeht.
Von Frühstücksflocken zu Schicksalsentscheidungen
Die Romane waren in den 80er- und 90er-Jahren beliebt – vor allem für Kindergeschichten und Jugendromane. Wollte der Leser beispielsweise, dass der Ritter im Buch den Drachen tötet, musste er zur Seite 136 blättern. Sollte der Ritter dagegen den geheimnisvollen Magier im Wald aufsuchen, wurde er aufgefordert, auf Seite 121 weiterzulesen. So ergaben sich ganz verschiedene Geschichten in dem gleichen Buch.
Nun hat Drehbuchautor und «Black-Mirror»-Schöpfer Charlie Brooker sich genau dieses Konzeptes bedient, um den Film «Bandersnatch» zu schreiben. Der Netflix-Zuschauer kann dabei in Abständen von ein paar Minuten mit seiner Maus oder seiner Fernbedienung Entscheidungen für Stefan Butler treffen. Die Geschichte entwickelt sich dementsprechend weiter. Und ist sie vorbei, kann der Zuschauer noch einmal zurück und seine Entscheidungen revidieren. So öffnen sich wieder neue Erzählstränge.
Was in Zeiten von ultra-realistischen Computerspielen etwas überholt klingt, funktioniert erstaunlich gut. Durch die eher kurzen Sequenzen zwischen den Entscheidungen bleibt der Zuschauer am Ball. Und während man anfangs die Möglichkeiten, die man mit der Fernbedienung hat, etwas belächelt (etwa welche Frühstücksflocken Stefan essen soll oder welche Musik er im Bus hören soll), gewinnen sie doch sehr schnell an Zugkraft. Bis man nach spätestens einer halben Stunde das Gefühl hat, tatsächlich das Schicksal des jungen Spieleentwicklers in den Händen zu halten – wortwörtlich.
Furore in den Internetforen
Netflix und Autor Charlie Brooker haben auf mehreren Ebenen einen Nerv getroffen. Durch die Geschichte um einen Spiele-Entwickler (ein Traumjob für viele Jugendliche), der in den 80er Jahren lebt (eine Zeit, die momentan ziemlich im Trend liegt), spricht das Setting viele Zuschauer an. Ganz nach «Black Mirror»-Manier gibt es in dem Film zahlreiche Anspielungen auf Bücher, Filme, Serien oder Spiele. Auch die Firma, für die Butler das Spiel entwickeln soll, hat es in den 80er Jahren wirklich gegeben. «Imagine Software» (im Film heißt die Spiele-Schmiede «Tuckersoft») arbeitete tatsächlich an einem Spiel namens «Bandersnatch». Es wurde nie veröffentlicht, weil das Unternehmen 1984 bankrott ging.
Doch der wahre Hype gebührt der Entscheidungsmöglichkeit. Netflix erklärte, dass einige Sequenzen sehr gut versteckt sind und es wohl dauern wird, bis die Zuschauer alle gefunden haben. Diese Ankündigung sorgte in Internet-Foren für ordentlich Furore. Fans sind schon dabei, Erzählstränge in Mindmaps zusammenzuführen, um herauszufinden, wo sich noch ein weiteres Geheimnis verstecken könnte. Sie versuchen auch, in weitgehenden Analysen alle Anspielungen auf andere Werke (die sogenannten Easter Eggs) zu finden. Eine weitere Anspielung auf die Gaming-Welt, da das Verstecken von Easter Eggs dort ein beliebter Sport ist. Die «Bandersnatch»-Erfahrung geht also auch nach dem Film für viele weiter.
Brooker nimmt seine eigene Kreation nicht zu ernst und sorgt so immer wieder für humorvolle Momente. Auch zögert er nicht, die Welt des Zuschauers in die des Protagonisten einfließen zu lassen. Ob das Konzept sich durchsetzen wird, ist trotzdem fraglich. Denn neu ist es nicht. Es wurde schon mehrmals genutzt – auch von Netflix selbst – allerdings in Filmen für Kleinkinder. «Bandersnatch» schafft den Überraschungseffekt vor allem dadurch, dass der Film das Konzept für Erwachsene anwendet. Die sollten sich den Film übrigens auf keinen Fall mit Kindern ansehen. Streckenweise ist er ziemlich brutal.
Was ist «Black Mirror»?
«Black Mirror» ist eine Serie, die von Charlie Brooker erschaffen wurde und auf der Streaming-Plattform Netflix ausgestrahlt wird. Sie beschäftigt sich mit der digitalen Welt und Zukunftsdystopien, die durch diese möglich werden. Jede Folge ist eine eigene Geschichte mit neuem Setting und neuen Protagonisten, sodass man sie sich nicht hintereinander ansehen muss. Vier Staffeln wurden mittlerweile veröffentlicht. Eine fünfte soll demnächst folgen.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können