China ist weltweit die zweitgrößte Wirtschaftsmacht und der Gegenspieler der USA. Kaum jemand glaubt an eine direkte militärische Konfrontation zwischen beiden. Allerdings zeigt die Vergangenheit, dass in zwölf von 16 ausgewählten Konflikten zwischen aufstrebenden und bestehenden Wirtschaftsmächten ein Blutbad die Folge war – wenn die Entscheider sich in die Thukydides-Falle manövrierten.
„Es gibt so etwas wie die sogenannte Thukydides-Falle nicht in der Welt. Wenn aber wichtige Staaten immer wieder den Fehler strategischer Miskalkulation begehen, könnten sie solch eine Falle für sich selbst schaffen.“ Was nach einer langweiligen Philosophiestunde klingt, ist nicht weniger als eine offene Drohung von China an die USA.
Denn obiges Zitat stammt vom chinesischen Präsidenten Xi Jinping, der seine Macht zuletzt immer stärker zementiert hat und seinem Land wieder zum Glanz von einst verhelfen will. Was wirtschaftlich bereits Realität ist, wird auch mit Blick auf die globale Machtbalance immer deutlicher. Denn hier ist China zwar stets darum bemüht, sich in Sachen „Let’s make it happen“ als pazifistische Nation darzustellen. Allerdings zeigt der Blick auf das tatsächliche Verhalten der Chinesen, dass Xi Jinping und sein Führungsstab alles außer Friedenstauben sind.
Doch wieso hat der chinesische Präsident einen mehr als 2.400 Jahre alten Historiker namens Thukydides bemüht? Es liegt vor allem an einem Werk, das vom Harvard-Historiker Graham Allison stammt. Titel: „Can America and China escape Thucydides’s trap?“ (Können Amerika und China der Thukydides-Falle entkommen?). Die einfache These des Buches lautet: Die Angst vor einer aufstrebenden Macht kann entweder durch Diplomatie in einer Lösung und Frieden enden oder aber im Falle von schwacher Führung zu einer Eskalation des Konfliktes und Blutvergießen führen.
Allison hat insgesamt 16 historische Beispiele aufstrebender Wirtschaftsmächte unter die Lupe genommen. In zwölf Fällen konnten die bestehenden Wirtschaftsmächte nicht mit der Situation umgehen und waren am Ende selbst dafür verantwortlich, dass Chaos und Unschuldige für sinnlose Kriege geopfert wurden. In vier Fällen herrschte Weitsicht. Es kam nie zum Eklat und eine im Sinne aller Konfliktparteien ausgehandelte Lösung wurde gefunden.
Peloponnesischer Krieg
Allison nennt als bekanntestes Beispiel der Thukydides-Falle den Konflikt zwischen Athen und Sparta, der im fünften Jahrhundert zum Peloponnesischen Krieg führte: „Es war das Aufstreben von Athen und die Angst, die dadurch Sparta eingeflößt wurde, die Krieg unvermeidlich machten.“ Im Gegensatz zu vielen Beobachtern hält Allison einen Krieg zwischen China und den USA in den nächsten Jahrzehnten für möglich. Man sei sich zwar im Allgemeinen bewusst, welche Katastrophe der Clash zweier Großmächte bedeuten würde, die nicht nur wirtschaftlich, sondern militärisch dominierten, allerdings bedeute dies nicht, dass ein Kriegsausbruch unmöglich wäre.
Vor dem Ersten Weltkrieg seien das aufstrebende Deutsche Reich, das nur so vor nationalistischem Wahn strotzte, und die koloniale Großmacht Großbritannien schlafwandelnd in die Katastrophe geschlendert. Auch in diesem Fall hätte es eine lange Phase des Aufrüstens, imperialen Großmachtdenkens, Bedrohungsfantasien und das hirnrissige Überwinden von Risiken gegeben. Demnach plädiert Allison weder dafür, dass ein Krieg zwischen den USA und China vor der Tür steht, noch dafür, dass er überhaupt stattfinden muss. Sein Werk zur Thukydides-Falle ist vielmehr ein Warnruf an all jene, die glauben, dass Konflikte zwischen konkurrierenden Wirtschaftsmächten nicht ausbrechen können, nur weil sie wirtschaftlich viel verbindet beziehungsweise ihre Konkurrenz auf dem gleichen wirtschaftlichen Spielfeld ausgetragen wird.
Das Totschlagargument
Die Tatsache, dass China und die USA tatsächlich wirtschaftlich stark voneinander abhängig sind, wird meist als Totschlagargument genannt, dass es nie zu einem Krieg zwischen beiden Staaten kommen wird. Dabei wird jedoch übersehen, dass politische Prozesse Phänomene wie Donald Trump hervorbringen. Auch wenn der US-Präsident von seinem Umfeld gebremst wird, ist sein Verhalten Ausdruck eines Bewusstseins, das in Amerika stärker ist, als so mancher es wahrhaben möchte. Das aufstrebende China wurde im Wahlkampf von Trump zu einem gigantischen Feindbild hochbeschworen. Nicht nur die Menschen im Rust Belt, sondern auch die Business-Elite konnte sich sehr wahrscheinlich mit dieser Verteufelung des chinesischen Gegenspielers identifizieren. Insofern hat der amtierende US-Präsident tatsächlich einen Mentalitätswechsel oder zumindest ein Konkurrenzbewusstsein mit China in der amerikanischen Bevölkerung geweckt.
Allerdings sollte man nicht nur auf die wirtschaftliche Realität blicken. Obschon China meist versucht, die USA ohne viel Lärm wirtschaftlich zu überholen, ist es militärisch eine andere Situation. Die Chinesen stehen ohnehin mit ihren Anrainerstaaten in den Grenzregionen im Konflikt. China ist aber nicht mehr der hungrige Militärzwerg, der mit Raubkopien zur Wirtschaftsmacht werden will und mit Indien sowie Japan im Dauerclinch liegt. Es sind vielmehr gezielte Investitionen in der ganzen Welt, Stahldumping und der Besitz von amerikanischen Staatsanleihen im Wert von mehr als einer Milliarde Dollar, die Chinas Wirtschaft beflügelt und es weltweit zum größten Gläubiger der USA gemacht haben, mal abgesehen von der US-Notenbank.
Alleine der Blick nach Luxemburg zeigt, wie vielfältig und gerissen die Chinesen ihre Kooperation mit verschiedenen Staaten angehen. Logistik, Finanzsektor, kultureller Austausch – China hat es im Gegensatz zu den USA verstanden, sich nicht in TTIP- oder CETA-Katastrophen zu manövrieren. Dass dafür Arbeitnehmerrechte weniger mit den Füßen getreten werden oder aber feindliche Übernahmen bzw. Wirtschaftsspionage bei den jeweiligen Unternehmensbeteiligungen verhindert werden, ist widerum Wunschdenken. Die Chinesen können sich momentan lediglich besser verkaufen als die Amerikaner.
Als wäre diese Drohkulisse nicht genug, existiert auch eine reale militärische Eskalationsgefahr. Bis in die frühen 2000er Jahre wirkte ein bewaffneter Konflikt zwischen den USA und China völlig absurd. Die militärische Überlegenheit der Amerikaner war derart ausgeprägt, dass Peking im Falle einer direkten Konfrontation Selbstmord begangen hätte.
Aufrüstung begonnen
Mittlerweile sind die Chinesen aber dabei, die militärische Kluft zwischen ihnen und Washington zu schließen. Der Blick auf die Aufrüstungsentwicklung der letzten Jahre verheißt nichts Gutes. So hat alleine China seine Militärausgaben seit 1995 um das 14-Fache erhöht. Auch die eigene Waffenproduktion wurde modernisiert und kräftig in Schiffabwehrraketen sowie Flugzeugträger investiert. Ein weiteres Schlüsselereignis: 2016 verkaufte Russland nach zehnjähriger Durststrecke China wieder moderne Kampfjets. Nur ein aufstrebender Staat, der nicht mit dem Status quo zufrieden ist, handelt so.
Und genau hierzu passt einerseits die chinesische „Belt and Road Initiative“, mittels derer Peking seine Nachbarstaaten wirtschaftlich ausschalten und seine Macht bis nach Europa ausdehnen will. Andererseits halten die Chinesen an ihrem Anspruch einer großchinesischen Nation fest – wenn nötig auch mit militärischer Gewalt. Bislang versucht China aber „nur“, seine maritime Hoheitszone auszuweiten. Allerdings ist die oben beschriebene Kombination bereits zu einem Pulverfass geworden. Denn Peking beansprucht ferne Atolle, die auch nur im entferntesten Sinne in irgendeiner Form einen Bezug zu China haben. Mit Blick auf die USA passt aber vor allem ein Konflikt am besten zur Thukydides-Falle: die Eskalation in Nordkorea. Dem nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un ist es bisher mit seinen Atomtests noch nicht gelungen, seinen Alliierten China gegen die USA auszuspielen.
Angst vor US-Intervention
Allerdings fürchtet sich Peking vor einer US-Intervention in Nordkorea, weil Pjöngjang bislang als Puffer zum US-Vasallen Südkorea gedient hat. Eine US-Invasion Nordkoreas würde einer Kriegserklärung mit China gleichkommen. Das Gedankenspiel bis zum nuklearen Weltkrieg benötigt heutzutage angesichts der hoch entwickelten Militärtechnologie, gepaart mit globaler Instabilität, nicht mehr die Fantasie von Science-Fiction-Autoren.
Viele Beobachter sehen die aktuelle Lage dennoch mit einer gewissen Gelassenheit. Man beruft sich auf die friedensstiftende wirtschaftliche Entwicklung in China, die verhindert, dass sich Peking auf eine militärische Konfrontation mit Washington einlassen würde. Jedoch zeigt gerade die jüngste Machtkonsolidierung von Präsident Xi Jinping, dass der Kapitalismus-Kommunismus mit all seinen Widersprüchen immer stärker an einen Personenkult gekoppelt ist. Die KP setzt in China auf einen höchst aggressiven Nationalismus, der sich zwar im Ton und Niveau von Trumps „Make America great again“ unterscheidet, ihm aber in nationalistischen Thesen in nichts nachsteht. Im Gegensatz zu Trump hat Xi Jinping seine Macht tatsächlich dadurch gefestigt, indem er viele Reformen rückgängig gemacht hat, um seine Autorität auch institutionell zu verstärken.
Gerade dieser Zwiespalt und die wirtschaftliche Abhängigkeit zwischen den USA und China lassen die Thukydides-Falle aus einer langfristigen Perspektive als wahrscheinlich erscheinen, wenn einer der beiden Staaten einen wirtschaftlich oder militärisch falschen Schachzug macht.
Insofern bleibt zu hoffen, dass es am Ende wie so oft Realpolitik ist, die große Ideologen und autoritär regieren wollende Hitzköpfe vom Blutvergießen abhält.
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