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Trennschärfe

Trennschärfe
(Alain Rischard/editpress)

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Hypokrisie und die Flüchtlingsdebatte.

Die Flüchtlingskrise ist auch eine Krise der intellektuellen Trennschärfe. Zahlreiche Beobachter verwechseln Ursache und Wirkung. Hinzu kommt eine völlig ahistorische Denkweise. Dieser toxische Politcocktail verführt zu unüberlegten, emotionalen und oberflächlichen Schlussfolgerungen. Ein Beispiel: Viele wollen Flüchtlinge nicht in Europa aufnehmen und die Wurzeln der Problematik bekämpft sehen. Gleichzeitig glaubt man daran, dass etwa die Intervention Russlands alle Probleme im Kampf gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) in Syrien lösen wird. Folgende Fragen drängen sich auf: Wie effizient ist der syrische Präsident Baschar al-Assad im Kampf gegen den Terror, berücksichtigt man, dass er nur noch Teile im Westen seines Landes kontrolliert? Wieso wird ignoriert, dass sein Kampf gegen den IS und die Rebellen tausende Menschenleben verschlissen hat und die Stärke seiner Armee von über 300.000 Mann auf unter 100.000 gefallen ist? Dass also nicht nur seine Fassbombenangriffe, sondern auch sein Kampf gegen den IS-Terror viele Zivilisten, die zwangsrekrutiert werden, in die Flucht treibt?

Dhiraj Sabharwal, dsabharwal@tageblatt.lu

Und wieso sollte man das russische Vorgehen gutheißen, handelt es sich doch lediglich um eine Kopie der jüngst wiederholt gescheiterten US-Interventionsstrategie? Also genau jener Strategie, die zu einem Desaster in Afghanistan, dem Irak und zuletzt in Libyen geführt hat – und von Moskau kritisiert wird. Wer daran glaubt, dass Stellvertreterkriege und die Bewaffnung von Aufständischen, Freiheitskämpfern, Rebellen oder Terroristen – ihre Bezeichnung ist letztlich ein subjektives Beobachtungskonstrukt – Probleme entschärfen, irrt. Die russische Strategie wird zwar zweifellos wie die amerikanische Vorgehensweise eine ähnlich fiktive sowie kurzfristige Stabilität erzeugen. Sie kann aber das von Washington verursachte und nun von Moskau verschärfte Debakel nicht von heute auf morgen lösen. Das Misstrauen zwischen Menschen, die in belagerten oder bombardierten Städten gelebt haben, wird jahrelang Bestand haben: Wer hat mit dem IS kollaboriert, wer mit Assads Schabiha-Milizen? Wem kann man noch trauen? Wieso sollte man pro-westlich sein, wurde man doch über Jahre im Stich gelassen? Allein solche Fragen erklären, weshalb die ideologische Basis von Terror sowie die Folgen der IS- und Assad-Gräueltaten nicht durch Raketen verschwinden.

Bevor wir uns also sinnvollerweise über die Integration von Flüchtlingen unterhalten, müssen wir uns auch folgende unbequeme Frage stellen: Schaffen wir durch unsere Bewaffnung von Terror finanzierenden Staaten wie Saudi-Arabien, Katar oder Iran nicht erst die Grundlage für die sich stets wiederholende Gewaltspirale im Nahen Osten und in Nordafrika? Zementiert durch eine völlig widersprüchliche, sprunghafte und kurzsichtige Politik des Unterstützens von autoritären Herrschern,die wir aufbauen, stürzen und ersetzen? Und ist nicht zuletzt die größte Frechheit, dass die EU sich als Oase der Menschenrechte inszeniert, gleichzeitig aber jedem, der „an der Tür klopft“, zu verstehen gibt, dass er nur unter Vorbehalt willkommen ist und sich gefälligst anpassen sollte? Wer dies fordert, sollte mindestens genauso laut ein Ende unserer Polit-Hypokrisie fordern.