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Lenin in der Arktis

Lenin in der Arktis
(AFP/Dominique Faget)

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Eine verlassene russische Bergbausiedlung auf Spitzbergen im hohen Norden hat sich als neue Touristenattraktion entwickelt. Alle wollen die Lenin-Büste in der Arktis sehen.

Auf einem verwitterten Steg wartet ein Mann mit Hammer-und-Sichel-Pelzmütze. Über der Schulter trägt er ein Gewehr für den Fall, dass ein Eisbär auftaucht. «Der letzte wurde hier im Mai gesehen, aber man weiß nie», lächelt der 33-Jährige verschmitzt. Alexander Romanowski bewacht Pyramiden, eine seit 1998 verlassene russische Bergarbeitersiedlung. Heute nimmt er ein Boot in Empfang, das einige Dutzend Reisende zu der Arktis-Kuriosität bringen soll: Die ziemlich triste Siedlung aus der Sowjetära mit ihrem morbiden Charme erlebt seit einiger Zeit ein Comeback als Touristenattraktion.

Pyramiden gehört noch immer der russischen Firma Arktikugol, liegt jedoch am Ufer eines Fjords der Insel Spitzbergen, im Herzen des norwegischen Archipels Svalbard. «Svalbard ist norwegisches Territorium, aber mit Sonderstatus, wo jeder zum Arbeiten hinziehen kann», erklärt Reiseleiterin Kristin Jaeger-Wexsahl, während sie das Boot von Longyearbyen etwa 50 Kilometer durch den Isfjord steuert. 1927 kaufte die Sowjetunion eine entstehende Kohlemine von einer schwedischen Firma, die auf die Nutzung verzichtet hatte, wie Romanowski erzählt. «Die ersten Russen kamen 1936 und wurden dann zu Beginn des Zweiten Weltkriegs von den Briten zwangsevakuiert. Erst 1956 begann die Nutzung.»

Leninbüste

Im Hintergrund erhebt sich steil der Berg, der der Siedlung ihren Namen gab. Auf seiner Flanke öffnet sich der Eingang zur ehemaligen Mine. Noch immer sind die Schienen der alten Bahn zu sehen, die die Bergarbeiter 400 Meter nach oben beförderte und Kohlewaggons hinunter. Am Kai türmen sich rostiges Metall, Backsteine, Kies und Balken. Eine große Betonstraße verbindet die verlassenen, in großem Abstand voneinander errichteten Gebäude. «Die 1970er und 1980er Jahre waren gute Zeiten», sagt Romanowski, der aus Sankt Petersburg kommt und hier ein paar hundert Kilometer nördlich des Polarkreises in der vierten Saison Dienst tut.

Trotz der extremen Lage wohnten bis zu 1200 Russen in der Kohlestadt. Sie hatte damals mehrere vierstöckige Gebäude, ein Krankenhaus und sogar einen Bauernhof mit Kühen und Hühnern. Das ehemalige Sport- und Kulturzentrum mit Leninbüste davor steht Besuchern offen: In der Eingangshalle hängen noch Schwarz-Weiß-Fotos von Fußball-, Hockey- oder Schachspielern. Der Kinosaal mit 300 Plätzen ist noch fast intakt, ebenso die Zuschauerränge des Basketballfeldes. Im Obergeschoss liegen in der ehemaligen Bibliothek einige Kinderbücher, in einem kleinen Raum verstauben ein Klavier, ein zerlegtes Schlagzeug und ein Akkordeon.

Geistersiedlung

In den 1990er Jahren ging es mit Pyramiden rapide bergab: Die Sowjetunion zerfiel, die Mine war nicht mehr rentabel, Moskau konnte manchmal die Löhne nicht mehr zahlen. 1998 wurde die Schließung der Kohlemine verkündet und die Siedlung in der Arktis aufgegeben. Heute verlässt in den Wintermonaten, wenn die Sonne gar nicht mehr aufgeht, sogar Wachmann Romanowski die Geistersiedlung.

Doch ab März kommt er gerne zurück: Denn seit einigen Jahren ist Pyramiden, die sowjetische Enklave inmitten von Fjorden und Gletscher, ein beliebtes Ziel der immer zahlreicheren Touristen in Spitzbergen. Im Jahr 2007 wurde sogar ein Gebäude zurückverwandelt in ein Hotel mit 24 Zimmern, mit Holzvertäfelungen an der Wand und einer Bar, an der der Wodka fließt.

Acht Leute aus Russland arbeiten in diesem Sommer in Pyramiden – im Hotel, zur Wartung der Stromgeneratoren und des Kohlekraftwerks, das Warmwasser liefert, sowie als Reiseführer. Zu ihnen zählt auch der 26-jährige Fotografie-Student Pawel Archarow. Für ihn hat die verlassene Stadt nichts Melancholisches: Vielmehr sei sie «ein sehr friedlicher, harmonischer Ort.

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