In der Nacht vom 24. auf den 25. April ist in Portugal das verbotene Lied „Grândola, Vila Morena“ auf einem katholischen Radiosender zu hören. Phil Mailers Buch „Portugal: Die unmögliche Revolution?“ beginnt am Morgen danach, als eine Radiodurchsage die Portugiesen darauf hinweist, „dass ein neues Kapitel ihrer Geschichte begonnen hat“. Die Diktatur ist vorbei. Der „Estado Novo“ (1933-1974), einst von Diktator António de Oliveira Salazar errichtet, ist bald Geschichte.
So beginnt die Geschichte der Revolution, wie sie Mailer (alias Phil Meyler) niederschrieb, der aus Dublin kam, um in Portugal als Englischlehrer von benachteiligten Jugendlichen zu arbeiten und außerdem als Übersetzer aus dem Portugiesischen sein Geld verdiente. Das Revolutionsbuch des Autors erschien erstmals 1977 und wurde 2018 auf Portugiesisch herausgebracht. Es ist mittlerweile vom Autor überarbeitet worden und liegt nun auf Deutsch vor. Die Nelkenrevolution erlebt er eher zufällig.
„8.15 Uhr. Meine Nachbarin weckt mich, mit irrem Blick steht sie im Pyjama vor mir. Ich sollte heute besser nicht zur Schule fahren. Alle Schulen sind geschlossen, die Armee hat die Macht übernommen, es wird geschossen, niemand soll das Haus verlassen. Damit ich sie besser verstehe, spricht sie in gebrochenem Portugiesisch und deutet mit ihren Fingern Schüsse in die Luft.“ Mailer kann nichts Ungewöhnliches entdecken, als er in die Baixa, den unteren Teil der Stadt, läuft: „Nur die Banken sind geschlossen.“ Er sieht zwar überall Soldaten sowie Panzer am Chiado. „Die Panzer wirken riesig in den engen Straßen, die Maschinengewehre bedrohlich.“ Doch die Truppen seien freundlich und zurückhaltend – und in den Augen der Menschen „mischen sich Angst und Hoffnung“. Mailer beschreibt „ein großartiges Gefühl“ darüber, dass die faschistische Diktatur zusammenbreche. Weiter könne im Augenblick noch kaum jemand denken.
Als das putschende Militär unter linksgerichteten Offizieren, der Bewegung der Streitkräfte, des Movimento das Forças Armadas (MFA), am Morgen mit Panzern durch Lissabon fährt, um Ministerien, Radio- und Fernsehsender sowie den Flughafen zu besetzen, säumen schon Tausende jubelnde Menschen die Straßen. Sie singen und stecken den Soldaten der Bewegung der Streitkräfte Nelken in die Gewehre. Andere Quellen behaupten, dass die Soldaten selbst die Blumen in die Gewehrläufe steckten. Jedenfalls ist der weitgehend friedliche Aufstand als Nelkenrevolution in die Geschichte eingegangen.
Der Weg zur Demokratie in Portugal wurde mit der Nelkenrevolution frei. Doch wie lang und hart umkämpft er war, geht aus Mailers Buch hervor. Während die Portugiesen noch das Ende der am längsten andauernden Diktatur Westeuropas feiern, beginnen die unterschiedlichen politischen Kräfte im Ausland bereits einen Wettbewerb um den Einfluss im Land. Denn die Welt befindet sich mitten im Kalten Krieg. Erst mit den Parlamentswahlen im April 1976, also zwei Jahre nach der Revolution, wird deutlich, dass die vom Westen unterstützten gemäßigten Kräfte gesiegt haben. Langfristig ist damit auch der Weg Portugals in die Europäische Gemeinschaft geebnet.
Mailer nennt die auf den 25. April 1974 folgenden Geschehnisse ein 18-monatiges Experiment, in dem eine große Energie in dem bisher von der berüchtigten Geheimpolizei (PIDE) und Zensur beherrschten Land freigesetzt wurde. Streiks, Demonstrationen, Besetzungen und Kollektivierungen bestimmten plötzlich den portugiesischen Alltag. Der Autor beobachtet nicht nur, sondern ergreift Partei, beschreibt die Bildung einzelner Gruppierungen wie etwa die der Maoisten. Sein Fokus auf die Arbeiterbewegung ist persönlich. Er kommt zu dem einen oder anderen Fazit – etwa dass Verstaatlichungen nichts mit dem Sozialismus zu tun haben, „liegt auf der Hand“ – erkennt, dass die Revolutionäre nicht die Lösung des Problems brachten, sondern „ein Teil der Problems“ waren. Und letztendlich bleibt die nicht gänzlich beantwortete Frage, ob Portugal überhaupt eine Revolution erlebt hat.
Einfluss auf die damaligen Kolonien
Den Plan für den Putsch hatte der linke Offizier Otelo Saraiva de Carvalho. Er umstellte mit 250 Soldaten in den frühen Morgenstunden des 25. April das Regierungsviertel. Wenig später wurde die Zentrale der berüchtigten Geheimpolizei PIDE gestürmt. Die Putschisten setzten eine provisorische Regierung und General António de Spínola als Chef der Junta zur nationalen Rettung ein. Er trat nach Auseinandersetzungen mit dem linken Flügel des MFA im September 1974 zurück und musste, nachdem er im März 1975 an einem Putsch konservativer Kräfte gegen die linke Regierung teilgenommen hatte, aus Portugal fliehen. Leider nur noch antiquarisch zu erhalten ist das Buch „Aufdeckung einer Verschwörung. Die Spinola-Aktion“ von Günter Wallraff aus dem Jahr 1976.
Nicht von der Hand zu weisen war, dass die Nelkenrevolution einen direkten Einfluss auf Angola, Mosambik, das heutige Guinea-Bissau und die Kapverdischen Inseln hatte. Denn die portugiesische Wirtschaft war eng mit den damaligen Kolonien verknüpft: Ob angolanisches Erdöl oder andere Bodenschätze, sie brachten dem portugiesischen Bürgertum satte Gewinne, während der Großteil der Menschen in Portugal in bitterer Armut blieb.
Die unterschiedlichen Guerillabewegungen in den Kolonien führten seit 1961 einen langen Unabhängigkeitskrieg, der von den Portugiesen zunehmend brutaler geführt wurde: Bevor er sich ausschließlich dem Schreiben widmete, hatte der berühmte Schriftsteller António Lobo Antunes, selbst Sprössling einer großbürgerlichen Familie aus dem Lissabonner Vorort Benfica, von 1971 bis 1973 seinen Militärdienst in Angola abgeleistet. Seine Romane „Elefantengedächtnis“, „Der Judaskuss“ und „Einblick in die Hölle“ schöpfen aus den Erfahrungen des schmutzigen Krieges in Afrika. Auch später hat sich Lobo Antunes literarisch immer wieder mit der Zeit der Salazar-Diktatur, aber auch mit der Kolonialzeit auseinandergesetzt. Der Putsch von links wurde nicht zuletzt dadurch ermöglicht, dass einige Teile des Militärs den Krieg in den Kolonien beenden wollten.
Aus Mangel an Bewerbern aus der Oberschicht für Offizierskarrieren kamen mehr und mehr Männer aus der Arbeiter- und Mittelschicht in den gehobenen Militärdienst. Die Kommunistische Partei (PCP), während der Diktatur im Untergrund, schuf innerhalb der Armee Widerstandszellen. Einige Studierende, die den Pariser Mai 1968 erlebten, mussten anschließend in der Armee dienen. Vor allem die Region um Lissabon und der angrenzende Alentejo waren von der PCP und anderen linken Gruppen dominiert. Insbesondere in der Kaserne der Kompanie RAL-1 dienten viele linke Soldaten, die während des Putsches der rechten Militärs bombardiert wurden. Das Scheitern des Putsches stärkte wiederum die Linken innerhalb der Militärregierung.
Buchtipps
Phil Mailer, „Portugal: Die unmögliche Revolution“, Edition Nautilus, Hamburg 2024
Victor Pereira, „C’est le peuple qui commande. La révolution des Œillets 1974-1976“, Editions du Retour, Bordeaux 2023
Die Revolution vom 25. April erweckte das Land aus einer langen Lethargie unter der Diktatur. Neue Parteien gründeten sich, andere waren kurz vorher entstanden, so etwa eine Woche zuvor in Bad Münstereifel die Sozialistische Partei unter Mário Soares, der ebenso aus dem Exil zurückkehrte wie der PCP-Präsident Álvaro Cunhal. Zudem wurden Fabriken und Land besetzt. Während Fabrikanten und Großgrundbesitzer nach Spanien flohen, entstanden aus den Landbesetzungen zahlreiche Kooperativen, zu denen sich die Landarbeiter zusammengeschlossen hatten.
Auch wenn es schon vorher Ansätze des Widerstands gegen die Salazar-Diktatur gab, etwa die Studentenproteste von 1962: Die Nelkenrevolution hat die Geschichte Portugals entscheidend verändert, wie es etwa der Historiker Victor Pereira in seinem Buch aufzeigt. Der 25. April war jener Tag, nach dem nichts mehr so sein sollte wie bisher. Schon vorher hatten immer mehr Portugiesen ihre Heimat verlassen, unter anderem nach Luxemburg. Einige waren Mitglieder von verbotenen Parteien, etwa der PCP. Und in den 18 Monaten danach nahm der tiefgreifende soziale und demokratische Umbruch, den Portugal in den folgenden Jahren erlebte, seinen Lauf – in dem nicht zuletzt die früheren portugiesischen Kolonien unabhängig wurden. Heute, 50 Jahre nach der Nelkenrevolution, kommen angesichts des Wahlerfolgs der rechtspopulistischen bis rechtsextremen Partei Chega bei den jüngsten Parlamentswahlen in Portugal die Worte des Schweizer Journalisten zum Tragen, der von „verwelkten Nelken“ schrieb, nachdem er bei einer 1.-Mai-Feier in Lissabon ein Transparent sah, auf dem stand: „Wir dürfen unsere Nelken nicht verwelken lassen.“
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