Gérard Hauray kniet auf dem Boden der Saarbrücker Bahnhofshalle und fegt mit einer Zahnbürste den Schmutz von den Schuhsohlen eines Mannes in einen Papierumschlag. Warum tut er das? Hauray ist Künstler, und er arbeitet an einem ungewöhnlichen Projekt. Für den Franzosen ist das, was er von den Sohlen klaubt, kein Dreck. Darin stecken Sporen, Samenkörner und Staubpartikel, die er aussät und aus denen kleine Biotope entstehen. «Es ist immer etwas dabei», versichert er der 65-Jährige und freut sich wie ein Kind.
Die Welt der Bakterien fasziniert den Franzosen. «Das, was wir heute unter den Schuhen haben, sind Elemente, die die ganze Evolution mitgemacht haben. Wir leben alle auf diesem kleinen blauen Planeten, und wir haben alle ein Stück von der Welt unter unseren Schuhsohlen», sagt Hauray.
Bakterien kennen keine Grenzen
Außerdem kennen Sporen und Bakterien keine Ländergrenzen – das inspiriert den Künstler. «Wir gehören alle zusammen», schmunzelt der 65-Jährige. Ihn begeistert die Vielfalt bei Pflanzen und Menschen. Er schwärmt vom kulturellen Reichtum, den vielen Sprachen und Möglichkeiten: «Plötzlich entdeckt man für einen kurzen Moment die Welt eines anderen Menschen.»
Haurays deutsche und französische Assistenten haben die Aufgabe, Reisende für die Aktion zu gewinnen. «Dürfen wir bitte den Schmutz von Ihren Schuhen haben?», fragen sie am Eurobahnhof. Die Menschen sind verwundert. Wenn sie «gespendet» haben, erstellen die Assistenten noch einen kleinen Steckbrief – mit Fotos der Schuhträger und Angaben zu deren Reiseroute. Woher kommen sie, wohin gehen sie, sind sie vielleicht über einen Marktplatz oder über eine Wiese gelaufen? Dann können die Reisenden weiterziehen.
«Auf Abwegen»
«Auf Abwegen» (französisch: «Ricochets») heißt Haurays Kunstprojekt. In seiner Heimatstadt Nantes sammelt und pflanzt er schon seit mehreren Jahren, nun weitet er die Idee auf die Partnerstädte Saarbrücken und Tbilissi in Georgien aus.
Der Sinn der Biotope erschließt sich nicht jedem auf Anhieb. «Als ich die Gärten zum ersten Mal gesehen habe, habe ich gar nichts kapiert», gesteht Steffi Ludwig, zuständig für Städtepartnerschaften bei der Stadt Saarbrücken, «aber je länger man darüber nachdenkt, desto spannender und vielseitiger wird die Aktion. Sie macht deutlich, wie sich die Menschen auf der Welt bewegen». Aus dem Schmutz entstehen in steriler Erde nun bald botanische Kuriositäten. Das Gesamtergebnis wird im Mai 2013 präsentiert.
Gedeihende Farne, Gräser und Moose
Einen Vorgeschmack gibt eine Ausstellung in der Galerie im KuBa (Kulturzentrum am Eurobahnhof) in Saarbrücken. Dabei sind bis 25. November 16 Kästchen mit gedeihenden Farnen, Gräsern und Moosen zu sehen, die bereits aus dem in Nantes gesammelten Schuhschmutz gewachsen sind.
Und was war die größte Überraschung, die Hauray bisher bei seinem Projekt erlebt hat? «Die des Botanikers, der nicht geglaubt hat, dass es funktioniert», lacht Hauray. «Ich habe ihm gesagt, wenn es funktioniert, ist es Wissenschaft. Wenn nicht, ist es Kunst.» Nun ist es beides. Sogar ein Bakterium aus Madagaskar hat Hauray schon im Straßenschmutz gefunden – «eine kleine Sensation», sagt der Künstler, der sich seine Ausbeute auch unter dem Mikroskop anschaut.
In Saarbrücken spenden die Passanten an diesem Tag bereitwillig. Darunter ist auch Raimund Hargesheimer, der auf dem Weg nach Neunkirchen ist. «Für Kunst interessiere ich mich eigentlich weniger, aber ich mach› trotzdem mit», sagt er. Aber ins 800 Kilometer entfernte Nantes fahren, um zu sehen, welche Landschaft er unter den Schuhen hatte, will er eher nicht.
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