Seit Anfang 2016 leitet die italienische Physikerin Fabiola Gianotti (56) das europäische Forschungszentrum Cern. Sie ist die erste Frau an der Spitze der mehr als 60 Jahre alten Institution. Im Interview zieht die Physikerin eine Bilanz und erzählt, was sie bisher als Generaldirektorin bewegt hat.
Fabiola Gianotti
Die italienische Teilchenphysikerin Fabiola Gianotti (56) promovierte 1989 in Mailand. Seit 1994 arbeitet sie am europäischen Forschungszentrum Cern, dessen Leitung sie am 1. Januar 2016 übernahm.
Sie sind die erste Frau an der Spitze des Cern: Was bedeutet Ihnen das?
Fabiola Gianotti: In erster Linie sehe ich mich als Wissenschaftlerin, die zur Leitung dieser Einrichtung berufen wurde. Und ich fühle mich sehr geehrt deswegen. Es ist ein toller und sehr prestigeträchtiger Job. Die Tatsache, dass eine Frau eines der wichtigsten Forschungszentren der Welt leitet, sollte für andere Frauen, vor allem die jüngeren, ermutigend sein: Auch sie haben gute Chancen für herausragende Karrieren in der Wissenschaft und können diese mitgestalten. Wenn ich nur ein bisschen dazu beitragen konnte, bin ich schon sehr zufrieden.
Was waren die größten Herausforderungen in Ihrem ersten Jahr?
Das Führen, sprich Koordinieren, eines solchen Forschungszentrums bringt jede Menge Herausforderungen mit sich. Das Cern ist in vielerlei Hinsicht ein Beispiel für Exzellenz: Von der wissenschaftlichen Forschung über Technologie und Innovation bis zur Ausbildung der nächsten Generation. Außerdem ist es ein Vorbild für eine friedliche, internationale Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus aller Welt. Deshalb war die Herausforderung sicherzustellen, dass die Cern-Exzellenz in all diesen Bereichen vorangetrieben wird.
Gab es denn schon Erfolge?
Ich würde sagen, dass das Cern ein wunderbares Jahr hatte. Vor allem weil der Teilchenbeschleuniger sehr gut funktioniert hat. Der Large Hadron Collider (LHC) stellte mehr Daten für die Experimente zur Verfügung als erwartet. Generell lief das ganze wissenschaftliche Programm sehr gut – in allen Bereichen. Wir haben auch Fortschritte in der geografischen Erweiterung der Organisation gemacht: Rumänien wurde zu unserem 22. Mitgliedsland und auch Zypern und die Ukraine sind als assoziierte Mitgliedsländer dazugekommen. Und nächstes Jahr folgen Indien und Slowenien – die Cern-Familie wird also immer größer.
Sie sagen, die Cern-Familie wächst. Was macht die Einrichtung so besonders?
Aus wissenschaftlicher Sicht ist es die Exzellenz: Eine Forschungseinrichtung zieht nur dann Leute aus der ganzen Welt an, wenn sie wirklich die Beste in ihrem Bereich ist. Am Cern ist vor allem der Teilchenbeschleuniger das Einzigartige. Diese – sagen wir mal – Attraktion bewegt rund 12 000 Wissenschaftler aus mehr als 110 Nationen hierher. Auch Deutschland ist ein starker Partner. Nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch was die Qualität der Wissenschaftler betrifft.
Das Cern hat ein Jahresbudget von fast einer Milliarde Euro: Welchen Einfluss hat das Cern auf die Gesellschaft, die ja in die Einrichtung investiert?
Der Einfluss auf die Gesellschaft ist enorm. Die Instrumente für die Experimente im Teilchenbeschleunigern, die Detektoren und das Computing sind so komplex, dass wir die Entwicklung fortschrittlichster Technologie dafür brauchen: von supraleitenden Magneten bis zu Big Data.
Diese Errungenschaften kommen über die Industrie auch der Gesellschaft zugute und erleichtern den Alltag. Jeder kennt das World Wide Web. Das Internet wurde am Cern entwickelt, um den Informationsaustausch der Wissenschaftler zu erleichtern. Seitdem hat sich auch die Informationsbeschaffung unserer Gesellschaft grundlegend verändert. Mittlerweile werden auch Teilchenbeschleuniger, die hier entwickelt wurden, in der Medizin genutzt. Detektoren auf Basis von Cern-Technologie kommen zum Beispiel bei bildgebenden Verfahren wie der Computertomographie (CT) zum Einsatz.
Die Suche nach dem Higgs-Teilchen hat viele Menschen begeistert: Welche Entdeckungen können wir künftig vom Cern erwarten?
Gianotti: Einerseits betreiben wir den leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger der Welt, andererseits wissen wir, dass es noch fundamentale Fragen in der Physik zu klären gibt. Eine große Frage ist die Beschaffenheit der Dunklen Materie, die mehr als ein Viertel des Universums ausmacht. Es könnte sein, dass diese Materie aus Teilchen besteht, die der LHC entdecken kann. Wie diese Teilchen aussehen könnten, wissen wir heute natürlich noch nicht.
Wie sieht der Plan für die kommenden Jahre aus?
Erstmal wollen wir unser Flaggschiff-Projekt, den LHC-Teilchenbeschleuniger, weiterführen. Anfang des nächsten Jahrzehnts planen wir dann eine wichtige Aufrüstung. Die Intensität der zwei Protonenstrahler soll erhöht werden. Mit diesem Upgrade steigt auch die Wahrscheinlichkeit, etwas Neues zu entdecken. Gleichzeitig läuft ergänzend zum LHC ein breites wissenschaftliches Programm. Wir fördern außerdem die Forschung und Entwicklung in neue Beschleuniger-Technologien. So bereiten wir uns auf die Zukunft vor.
Und ihr Wunsch für das Jahr 2017?
Mein Wunsch ist natürlich eine Entdeckung. Welche ist mir eigentlich egal, da lasse Ich mich gerne überraschen. Eine große Entdeckung wäre fantastisch.
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