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Ein Dorf, drei Sprachen

Ein Dorf, drei Sprachen
(dpa)

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Seit 1827 ist Leidingen geteilt: Die deutsch-französische Grenze verläuft genau durch das einst gemeinsame Dorfgebiet. Erst eine Männerfreundschaft sorgt allmählich dafür, dass beide Orte sich wieder näher kommen.

Es ist 12.00 Uhr mittags in Leidingen, die Glocken läuten. Erst die eine, im Turm der französischen Kirche Jeanne d`Arc. Dann, wenige Sekunden später, die andere, in der Kirche St. Remigius, sie liegt in Deutschland. Nie schlagen die Glocken gleichzeitig an. Ein Dorf, zwei Kirchen. Und drei Sprachen: zwei, die trennen, Französisch und Deutsch. Und eine, die verbindet: der gemeinsame Dialekt, das Moselfränkisch.

Das deutsche Leidingen und das französische Leiding – zwei Dörfer an der Grenze, eigentlich ein Dorf mitten auf der Grenze. Die Trennung verläuft genau auf der Dorfstraße, die zwei Namen trägt: «Neutrale Straße» heißt sie auf der einen, «Rue de la Frontière» auf der anderen Seite.

«Grenzfall Leidingen»

Leidingen liegt genau auf dem Saargau, zwischen Thionville in Frankreich und Saarlouis in Deutschland. Der Schriftsteller und Regisseur Alfred Gulden rückte den Grenzort 1983 mit seinem Dokumentarfilm «Grenzfall Leidingen» in den Blickpunkt. Sein Film, ausgezeichnet mit dem deutsch-französischen Journalistenpreis, machte Leidingen ein bisschen berühmt. Das ist fast 30 Jahre her, aber auf den ersten Blick hat sich seitdem nicht viel verändert. Das Dorf ist weniger bäuerlich, es spielen keine Kinder mehr auf der Straße. Damals patrouillierten täglich die Zöllner, es gab Passierzeiten, Bauern konnten nicht einfach auf ihre Felder gehen.

Wenn heute ein Reisebus mit US-amerikanischen oder japanischen Touristen hier hält, was sehen die dann? Nichts. Eine leere Straße, ein zerfallenes Haus, ein paar gepflegte Neubauten, nur selten Menschen, vielleicht mal eine Katze, die über die Dorfstraße huscht. Von Frankreich nach Deutschland, über die unsichtbare Grenze. «Man sieht hier nur den Aberwitz», sagt Gulden. Weit und breit gibt es sonst nichts. Niemandsland, ein Bach, ein paar Dörfer, weite Wiesen und Felder.

«Die Chemie stimmt»

Hier Deutschland, dort Frankreich, dazwischen nur eine Straße. Eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit schien bis vor kurzem undenkbar. Dass sich nun doch etwas bewegt, hat mit einer deutsch-französischen Freundschaft zu tun. Wolfgang Schmitt, Ortvorsteher von Leidingen, und Bathelemy Lemal, Bürgermeister der Gemeinde Heining, zu der das französische Leiding gehört, sind schon lange Freunde und Arbeitskollegen. Nun sind sie auch Amtsträger und suchen nach gemeinsamen Lösungen für ihre Dörfer, die nur knapp drei Meter auseinanderliegen. «Das ist das erste Mal, dass der französische und der deutsche Teil von Leidingen zusammenarbeiten», sagt Schmitt. «Weil zwischen uns die Chemie stimmt.»

Die Trinkwasser- und Abwasserversorgung für beide Ortsteile läuft nun über Deutschland, die Beleuchtung der Grenzstraße übernimmt Frankreich, beim Schneeräumen wechseln sich die Gemeinden ab. «Wir haben schon viel bewegt», sagt der Franzose Lemal. Früher erkannte man deutlich die Grenze mitten auf der Straße, denn jedes Land teerte immer nur seine Hälfte. Heute gibt es eine einheitliche Straßendecke, dieselben Laternen auf beiden Seiten.

Bürokratische Hürden

Einfach war das nicht: EU-Gelder mussten beantragt, bürokratische Hürden überwunden werden – auf beiden Seiten. Gemeinsam haben die Freunde noch ein Projekt auf den Weg gebracht, die «Grenzblickfenster» auf beiden Seiten des Dorfes: zwei hohe Stahlrahmen, in Sandstein gemauert, durch die Fenster blickt man genau auf die jeweils andere Kirche – eine grenzenlose Aussicht. In die Glasscheiben ist Guldens Gedicht «Die Grenze» eingelassen, in moselfränkischer Sprache, sowie auf der französischen Seite in Deutsch und umgekehrt. «Wenn man es verstehen will, muss man auch mal rübergehen, auf die andere Seite», erklärt der Autor.

Nach drüben ist es nur ein Katzensprung. Die Straße hat einst Menschen getrennt, die nicht verschieden waren. Dann bemühte man sich, deren Nachfahren wieder näher zusammenzubringen, die deutsch-französische Freundschaft wird gefördert und gefeiert. «Aber es wird vieles verdrängt, im Zuge einer Harmonisierung», meint der im Saarland geborene Regisseur Gulden. «Zusammen feiern, trinken kann man mit jedem. Aber versuchen Sie mal, über den Algerienkrieg zu diskutieren. Da brechen schnell die alten Vorurteile, die alten Wunden wieder auf.»

«Man grüßt sich»

Auf der französischen Straßenseite leben 26 Menschen, fast 190 sind es auf der deutschen. Es gibt kaum Gemeinschaftsleben, keine Treffpunkte. Kein Geschäft, keine Kneipe, keinen Fußballplatz. Man grüßt sich und geht seiner Wege. «Man spricht immer von deutsch-französischer Nachbarschaft», sagt Gulden. «Dabei weiß jeder, dass Nachbarschaft zu 70 Prozent Ärger und Streit ist. Warum soll das hier anders sein?»

Die Grenze ist unsichtbar, aber noch zu spüren. Um zu verstehen, warum das so ist, muss man die ungewöhnliche Geschichte des Ortes kennen: Die Grenze legte der Wiener Kongress 1815 auf dem Reißbrett fest. In 200 Jahren wechselten die Leidinger siebenmal ihre Nationalität. «Die Leute hier im Ort waren Franzosen, Deutsche, Lothringer, wieder Deutsche, geteilt, zusammen. Jetzt sind sie seit Jahrzehnten Franzosen und Deutsche, das bleibt jetzt auch so, das will niemand mehr anders haben», erklärt der Ortsvorsteher Schmitt, sein Amtskollege Lemal nickt.

Baguette und Bier

Mit der endgültigen Teilung haben sich beide Seiten abgegrenzt: Aus einem Dorf wurden zwei Dörfer in zwei Ländern, mit zeitweise zwei Währungen, zwei Schulsystemen, zwei Müllautos. Die deutsche Kirche trägt einen Zwiebelturm, den einzigen weit und breit. Die Franzosen bekamen in den 1930er Jahren ihre eigene Kirche, als sie sich weigerten, unter den Hakenkreuzfahnen der Nazis in die Messe zu gehen.

Baguette, Käse und Rotwein hier, Würstchen mit Weck und Bier dort – jede Seite pflegt ihre Kultur und Andersartigkeit. Deutsche und Franzosen verbindet der moselfränkische Dialekt – noch. «Aber in 20 Jahren wird es keine Verständigung mehr geben», meint Lemal. «Die Deutschen können kein Französisch und umgekehrt. Und die Jungen sprechen keinen Dialekt mehr.»

Das Sprachenproblem

Der französische Bürgermeister spricht fließend deutsch oder vielmehr moselfränkisch – es ist seine Muttersprache. Französisch lernte er erst in der Schule, seine Familie war wie alle in der Gemeinde Heining-les-Bouzonville früher deutsch. Beide Amtsträger, Schmitt und Lemal, ahnen: «Die Sprache wird ein Riesenproblem.»

Um den gemeinsamen Dialekt lebendig zu halten, wollen sie nun auch die Kinder ihrer Nachbargemeinden öfter zusammenzubringen. Schmitt beschreibt ihre gemeinsame Vision für das Grenzland: «Wir haben eigentlich nur eine Hoffnung: Dass das hier mal wirklich alles eins wird, nämlich Europa. Dass wir einfach nur noch Nachbarn sind.» Es ist vielleicht nur eine Frage der Zeit, im kleinen Leidingen wie im großen Staatenbund. Aber solange die Grenze in den Köpfen existiert, ist Europa noch weit weg.