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Das Aschenputtel von Lahore

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Hunderttausende Kinder arbeiten in Pakistan als Dienstboten - viele werden misshandelt. Wie Nazia, 14, die bis nachts arbeitete und auf dem Boden schlief. Aber sie konnte gerettet werden, abgemagert, mit gebrochenen Armen.

Das pakistanische Aschenputtel heißt Nazia. Es ist 14 und sehr schmal unter den Stoffbahnen von Hose, Hemd und Kopftuch. Wer Nazia umarmt, spürt über dem rechten Ellenbogen spitze Knubbel, wo Knochen schief geheilt sind. Acht Monate lang war sie einer Frau und deren Töchtern ausgeliefert, die sie schlugen mit allem, was sie fanden. Mit Rohren, Schuhen, Besen, auf Arme, Kopf und Rücken. Nazia hat für die Frauen geputzt, gekocht, gebügelt, oft bis in die Nacht. Geschlafen hat sie auf dem Boden im Esszimmer.

Nazia ist eines von Hunderttausenden Kindern, die in Pakistan als Dienstboten arbeiten. Wie viele von ihnen misshandelt werden, ist nicht klar. Aber wer in die – noch seltenen – Kinderschutzzentren des Landes geht, findet viele von ihnen. Auch Nazia.

Haut und Knochen

«Als wir sie aus diesem Haus rausgeholt haben, war sie Haut und Knochen. Ihre Arme waren mehrmals gebrochen gewesen und schief wieder zusammengeheilt», sagt Tania Malik. Die junge, energische, gut organisierte Frau ist die Programmdirektorin des staatlichen Kinderschutzbüros von Punjab, Pakistans größter Provinz mit mehr als 100 Millionen Menschen. Der Backsteinkomplex in der Provinzhauptstadt Lahore ist das Zentrum der zarten Anfänge des Kinderschutzes in Pakistan. In den anderen drei Provinzen des Landes ist davon noch nicht viel zu spüren, aber in Punjab wurde der bis dahin eher inaktiven Abteilung vor drei Jahren eine Abgeordnete vorgesetzt: Saba Sadiq, Familienanwältin und altgediente Parteisoldatin, die ihren Einfluss nutzt, um Geld zu beschaffen. Sie und Malik haben neue Kinderschutzzentren gebaut, mehr Programme zu Kinderrechten in Gemeinden organisiert und die Notrufhotline 1121 modernisiert.

Für Nazia war das die Rettung. Ein Elektriker, der in einer Nachbarwohnung arbeitete, hörte sie weinen und rief an.

Kinderdienstboten sind in Pakistan an der Tagesordnung. Genaue Zahlen gibt es aber nicht – die letzte Kinderarbeitsstudie ist 20 Jahre alt. Erst jetzt werde eine neue vorbereitet, die auch zu Kinderdienstboten bald neue Zahlen liefern soll, heißt es bei UNICEF Pakistan. Hunderttausende gebe es, schätzen Experten.

Arbeiten für 35 Euro im Monat

Sicher ist: Ihre Zahl wächst. Das liegt vor allem daran, dass die Mittelklasse des Landes, die die meisten Kinder einstellt, größer wird. Dienstboten sind ein Statussymbol. Es ist nicht ungewöhnlich für Familien, Koch, Gärtner, Türöffner und Putzfrau zu haben. Aber Hausfrauen stellen im islamisch-konservativen Land junge Mädchen lieber ein als männliche, erwachsene Dienstboten. Und Kinder tun die Arbeit billiger. Der Mindestlohn liegt bei monatlich 14.000 Rupien, etwa 125 Euro. Kinder arbeiten für um die 4000 Rupien, 35 Euro.

Es ist aber nicht nur ein wachsendes, sondern auch ein schwer auszurottendes Phänomen. «Denn viele Eltern und auch Kinder finden diese Jobs sehr begehrenswert», sagt Fatma Nasir von der ältesten Kinderschutz-Organisation des Landes, SPARC. Kinderdienstboten werden unter den Ärmsten rekrutiert. Mindestens 60 Millionen Menschen leben in Pakistan unter der Armutsgrenze. «Arbeit im Mittelklassehaushalt – das fühlt sich wie ein Aufstieg an», sagt Nasir. «Die Kinder bekommen zu essen, und sie lernen etwas, das ihnen ein Auskommen garantiert.»

Bis zu 17 Stunden am Tag

Die Arbeitgeber wiederum argumentieren, dass sie dem Kind ja immerhin ein besseres Leben bieten als es das zu Hause hätte. Aber das ist eben nicht immer der Fall. Bei einer von der Zeitung «Express Tribune» in Auftrag gegebenen Umfrage aus dem Jahr 2014 sprachen 79 Prozent der 800 befragten Kinder von «unterdrückenden» Arbeitsbedingungen. Bis zu 17 Stunden mussten einige arbeiten.

Und dann sind da die toten Kinder. Das Institut für soziale Gerechtigkeit, eine Nichtregierungsorganisation, hat allein zwischen Januar 2010 und Dezember 2013 52 Fälle von Folter gezählt – 24 Kinder starben. Es sind nur die Fälle, die in den Medien waren. Die meisten, sagt Malik, würden nie bekannt, weil sie hinter verschlossenen Türen stattfänden.

Metallrohr auf den Kopf geschlagen

Malik kann eine ganze Reihe von Schützlingen aufzählen, die gerade so überlebt haben: Rubab, 12, mit einem Metallrohr auf den Kopf geschlagen, bis die Augen zuschwollen. Umer, 9, mit Hammer und Telefon verprügelt. Und immer so weiter mit Ramiza, Shazia, Rani…

Woher die Gewalt kommt? Niemand hat so recht eine Antwort. Kinderschützerin Nasir von SPARC sagt, das «tiefe Misstrauen gegenüber der Unterklasse» spiele eine Rolle. «Nach dem Motto: Die sind sowieso alle unehrlich, undankbar und potenziell gefährlich.» Aber vielleicht läuft es auch einfach darauf hinaus, dass es in manchen Menschen das Schlechteste zutage fördert, wenn ihnen ein schwächeres Wesen anvertraut wird. Genau über Nazias Kehlkopf sitzt eine mehrfach vernarbte, blau-rote Stelle. Ihre Arbeitgeberin schlug dort mit einem Plastikrohr hin, wenn Nazia versuchte zu sprechen.

Angst vor der Rache

Die Frau, die Nazia gefoltert hat, sitzt nun im Gefängnis. Aber noch gab es kein Urteil. Nazia hat Angst vor ihrer Rache, sollte sie freikommen. Sie geht zu Malik und lehnt sich gegen sie. Sie will erst einmal hier im Schutzzentrum bleiben. Sie ist gerettet worden. Ein glückliches Ende für das Aschenputtel von Lahore. Ein Mädchen von vielen, deren Geschichte niemals bekannt werden wird.