Während sich Marseille auf sein Jahr als europäische Kulturhauptstadt vorbereitet, macht ihr die französische Stadt Lille mit spektakulären Kultur-Events heftig Konkurrenz. In Marseille streiten die Organisatoren noch darüber, ob die große Camus-Ausstellung stattfinden soll oder nicht, da sorgt Lille mit einem Kultur-Megaprogramm schon für Schlagzeilen: rund 300 Veranstaltungen in drei Monaten.
Das Programm und die Namen sind so publikumswirksam wie der Titel des Events «Fantastic». Namen wie Bosch, Brueghel, Magritte und Pistoletto sollen mehr als eine Million Besucher anziehen. Seit Lille im Jahr 2004 zur Kulturhauptstadt Europas gekrönt wurde, ist sie zu einer der bedeutendsten Kulturmetropolen in Frankreich geworden. Daran soll auch Marseille 2013 nichts ändern.
«Fantastisch»
Der Begriff «Fantastisch» wird in Lille breit gefasst. Der Palast der Schönen Künste zeigt «Fabeln der Flämischen Landschaft des 16. Jahrhunderts». Rund 100 Werke von Hieronymus Bosch, Pieter Brueghel der Ältere und Paul Bril sind zu sehen, deren wundersamer, skurriler und grotesker Charakter noch mehr als 500 Jahre später fasziniert.
Im Tripostal, einer riesige Kunsthalle mitten in der Stadt, führen zeitgenössische Künstler in ihre fiktiven, märchenhaften und gespenstischen Welten. Unter dem Titel «Phantasia» zeigt Theo Mercier seinen mittlerweile weltweit bekannten Spaghetti-Mann «Le Solitaire», eine auf einem Stuhl sitzende überdimensionale Figur, deren Kulleraugen traurig unter Kunststoffnudeln hervorschauen. Sie ist eine Persiflage auf den «Denker» von Auguste Rodin. Nick Cave und Marnie Weber füllen die Ausstellungsräume mit riesigen bunten Stoffskulpturen und hybriden Monstern, die an Boschs hässliche Gnome erinnern.
Futuristische Städte
Wie futuristisch Städte sein können zeigt das Museum für moderne und zeitgenössische Kunst (LaM) in Villeneuve d’Ascq, das rund neun Kilometer entfernt von Lille liegt. Unter dem Titel «Die magische Stadt» sind rund 200 Gemälde, Zeichnungen, Fotografien und Filmausschnitte von René Magritte, Victor Brauner, Brassaï, Man Ray und Fritz Lang zu sehen. Bereits damals im Jahr 2004 spielte die Region um die Kulturhauptstadt eine wichtige Rolle: Rund 60 Prozent des Programms ereignete sich außerhalb der ehemaligen Industriestadt.
Eine fliegende Schüssel, ein Haus, das auf dem Kopf steht: Lille zeigt viel Gefälliges und Spektakuläres. Liebhaber konzeptueller Kunst kommen etwas zu kurz. Doch diese Mischung dürfte auch diesmal wieder massenweise Besucher anziehen, so wie die vorherigen Veranstaltungen, die die nordfranzösische Stadt unter dem Slogan «Lille 3000» ins Leben gerufen hat. «Mumbai» zog 2006 rund 9 Millionen Personen an, «Europa XXL» im Jahr 2009 mehr als 9,5 Millionen. Wenn wundert es, dass Lille und seine Mäzene dabei großzügig den Geldhahn geöffnet haben. Von den mehr als 10 Millionen Euro stammen 40 Prozent aus Privatmitteln.
Marseille hofft durch den Ehrentitel als Kulturhauptstadt Europas sein Image als Stadt der Bandenkriege und Drogen ändern zu können. Die Ansätze sind vielversprechend. In den vergangenen Jahren wurden zahlreiche Museen renoviert, darunter das Musée Cantini, das in Frankreich eine der bedeutendsten Sammlungen moderner Kunst besitzt. In wenigen Wochen werden das Museum für Europäische und Mittelmeer-Zivilisation MuCEM eröffnet sowie das futuristische Ausstellungszentrum CeReM. Großprojekte, bei denen architektonisch geprotzt wurde. Ob Marseille die riesigen Ausstellungsräume auch bespielen kann, wird sich zeigen. Ein Beispiel kann sich die Hafenstadt jedenfalls an Lille nehmen.
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