Kaum eine Woche vergeht in Deutschland ohne ein Patentverfahren in der IT-Industrie mit Klagen, Verhandlungen, Urteilen. Weltkonzerne wie Apple, Samsung, Motorola oder Microsoft haben das Land zu einem zentralen Schauplatz ihrer Patentkriege gemacht. Jetzt schlagen die vielen Prozesse in Mannheim, München und Düsseldorf erstmals auf Deutschland als Wirtschaftsstandort durch: Microsoft verlegt seine europäische Distributionszentrale aus Nordrhein-Westfalen in die Niederlande. Bei der Bertelsmann-Tochter Arvato sind dadurch nach dpa-Informationen knapp 100 Arbeitsplätze betroffen. In Branchenkreisen war von einem «Kollateralschaden» die Rede.
Bislang hielten sich die Auswirkungen der Verfahren eher in Grenzen, auch wenn mehrere Unternehmen und deutsche Verbraucher sie zu spüren bekamen. Samsung konnte seinen iPad-Konkurrenten Galaxy Tab 10.1 monatelang nicht auf den Markt bringen, Apple musste einen Tag lang den Online-Verkauf einiger Modelle seiner iPhones und iPads aussetzen.
Urteile stehen noch aus
Diverse Urteile stehen aber noch aus. Darunter ist auch eines, das Microsoft besonders wehtun könnte. Es geht um die Klage einer Motorola-Tochter wegen des Videokompressions-Standards H.264. Stellt das Landgericht Mannheim in seinem am 17. April erwarteten Urteil eine Verletzung von zwei Patenten der Motorola-Tochter General Instrument Corporation fest, wäre gleich eine ganze Reihe von Microsoft-Produkten betroffen. Die Palette reicht vom Betriebssystem Windows 7 bis hin zur Spielekonsole Xbox 360. Bevor die riesigen Lagerbestände festsitzen oder gar beschlagnahmt werden, zieht der weltgrößte Software-Konzern sie lieber ins Nachbarland Niederlande ab.
Microsoft hält Zehntausende Patente und trat immer wieder selbst als Kläger auf. Jetzt reagiert der US-Riese so radikal wie noch kein anderes Unternehmen auf die Prozesswelle in Deutschland und könnte eine Diskussion über die Folgen der deutschen Patent-Rechtsprechung für die Wirtschaft anstoßen.
Klägerfreundliche Rechtssprechung
«Man muss sich schon fragen, warum wird hierzulande so viel geklagt?», sagt der deutsche Patentexperte Florian Müller, der die weltweiten Streitigkeiten in der Branche beobachtet. Die Größe des Marktes und das hohe Tempo der deutschen Gerichte seien nicht die wichtigsten Gründe. Viel wichtiger sei, «dass der gesetzliche Rahmen und auch die Rechtsprechung klägerfreundlich sind», argumentiert er. Mit einem «starren Verbotsmechanismus» bedeute eine Verletzung gleich ein Verkaufsverbot.
«Deutschland ist bekannt dafür, dass Patentinhaber hier gute Erfolgsaussichten haben», sagt auch der Münchner Professor Joachim Henkel. Insbesondere die Unterlassungsverfügung sei ein scharfes Schwert. «Es gibt in dem ganzen System viele Dinge, die der Realität der Informations- und Kommunikationstechnologien nicht mehr gerecht werden.» Jedes Gerät enthalte zigtausende patentierter Erfindungen. «Ein einzelnes Patent hat damit oft einen Blockadewert, der in keinem Verhältnis zum Wert der Erfindung steht», kritisiert Henkel.
Deutschland bei Patentklagen beliebt
Besonders attraktiv ist Deutschland bei Klagen, in denen es um Patente geht, die zum Grundstock von Standards gehören – so wie die beiden im Microsoft-Fall. Für solche Patente, ohne die ein Standard gar nicht erst umgesetzt werden kann, gelten weltweit besondere Regeln. Dadurch soll sichergestellt werden, dass ein Patentinhaber Konkurrenten nicht behindern kann. Unter anderem müssen sie zu sogenannten FRAND-Konditionen lizenziert werden. Das ist eine Abkürzung für «Fair, Reasonable and Non-Discriminatory» – der verlangte Preis muss also fair und angemessen sein, und kein Anwärter darf schlechter behandelt werden als andere.
Deutschland hat allerdings bei der Umsetzung dieser Regeln eine Besonderheit, die aus dem sogenannten «Orange Book»-Verfahren um wiederbeschreibbare CDs stammt. Die in einem Urteil des Bundesgerichtshofs von 2009 festgehaltene Prozedur sieht unter anderem vor, dass der Nutzer eines Patents dem Inhaber von sich aus ein verbindliches Angebot unterbreiten – und auch einen entsprechenden Geldbetrag hinterlegen muss.
Der Mobilfunk-Pionier Motorola hat viele solcher sogenannten Standard-essenziellen Patente im Köcher. Google übernimmt das Unternehmen gerade für 12,5 Milliarden Dollar, um das Patentarsenal hinter seinem oft angegriffenen mobilen Betriebssystem Android zu stärken. Die EU-Kommission und amerikanische Kartellwächter billigten bereits die Motorola-Übernahme, warnten jedoch, dass sie den Umgang mit Standard-Patenten besonders im Auge behalten werden.
Die EU greift ein
Die EU-Kommission mischt sich jetzt stärker in die Streitfälle ein. Sie prüft Motorolas Umgang mit Patenten. Die Computerriesen Apple und Microsoft hatten Beschwerde gegen Motorola eingelegt. Das Unternehmen mache ihnen entgegen seinen Zusagen wichtige Patente nicht zugänglich. Auf Patenten, die in allgemein gültige technische Standards der Branche wie UMTS eingebracht wurden, dürfen Unternehmen nicht sitzen bleiben. Sie müssen sie vielmehr als so genannte FRAND-Patente zu angemessenen Bedingungen auch Konkurrenten zur Verfügung stellen.
Konkret geht es um Standards für den Mobilfunk, für die Kompression von Videos und drahtlose Netze (WLAN).
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