Für den 15. Geburtstag einer Partei ist die Bilanz erstaunlich: Zwölf Wahlen am Stück gewonnen, Bruttoinlandsprodukt verdreifacht, Tausende
Kilometer Schnellstraßen gezogen, riesige Infrastrukturprojekte angestoßen, Hunderte Schulen und Hunderttausende Wohnungen gebaut, die Macht des Militärs beschnitten, einen Bürgerkrieg beendet, Fortschritte in der Meinungsfreiheit und bei den Menschenrechten erreicht, den Weg Richtung Europa geebnet und Menschen, für die eine Tasse Tee vor 15 Jahren noch unerschwinglich war, treffen sich nun in Shoppingcentern.
Trotzdem bleibt die türkische Adalet ve Kalkinma Partisi, zu Deutsch Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung und geläufiger unter dem Kürzel AKP, für viele Europäer ebenso rätselhaft wie bedrohlich. Doch wer die Türkei verstehen will, sollte die AKP verstehen. Auch um ihr auf Augenhöhe, aber ohne Arroganz begegnen zu können.
Viele der aufgezählten Erfolge sind bereits Vergangenheit: bei den Menschenrechten (die Folter ist zurück), bei der Pressefreiheit (ist schlicht abgeschafft), bei den Beitrittsverhandlungen mit der EU (bestenfalls höchst gefährdet). Die Türkei steckt wieder im blutigen Bürgerkrieg mit der kurdischen Minderheit und steht im Verdacht, Unterstützer terroristischer Organisationen zu sein. Dazu die Kehrseiten des Bauwahns mit Umweltzerstörung, Investitionen in Muskeln, aber kaum in Köpfe, Korruption. Nicht zuletzt eine mehr rasende denn schleichende Islamisierung. Und trotzdem: Sechs von zehn Türken stehen hinter ihrem zusehends autokratisch agierenden Präsidenten Erdogan – und damit hinter der AKP.
Nicht einmal der IS-Terror mit Anschlägen auf Friedensdemonstrationen, öffentliche Plätze, eine Hochzeit; nicht einmal das Einsinken im Morast des Syrienkrieges; nicht einmal ein abgewehrter Staatsstreich und die folgenden, mit Rechtsstaatlichkeit nicht mehr zu vereinbarenden „Säuberungen“; nicht einmal die zerrütteten Beziehungen zu allen Nachbarstaaten – nichts von alledem konnte Erdogans Erfolg und den der AKP erschüttern. Die prekäre Sicherheitslage schadet der Tourismusindustrie, die Wirtschaft schert das kaum. Der Coup-Versuch? Beunruhigte die Märkte nur kurz.
Wie gesagt, für den Westen ist das gleichermaßen rätselhaft wie bedrohlich – und für Vertrauen keine Basis. Das aber gilt für beide Seiten. Dass die EU und die USA den Ausgang des Putschversuchs abwarteten, um der AKP und der Türkei ihre Solidarität zu bekunden, war für die Türkei ein Affront. Russland und der Iran verhielten sich da anders. Dass Ankara dauernd droht, den Flüchtlingsdeal platzen zu lassen, und seine innenpolitischen Streitigkeiten in Europas Hauptstädte trägt, sorgt für erheblichen Missmut – bis hin zur Türkenfeindlichkeit. Womit keinem geholfen ist.
Europa braucht die Türkei und die Türkei braucht Europa. Nicht die Differenzen, die gemeinsamen Interessen gehören in den Vordergrund. Momentan spielt man sich gegeneinander aus, droht und beleidigt und trickst. Doch im Kontext des Syrienkrieges und der Flüchtlingskrise sollten die Dinge in der Bahn bleiben. Die Beziehungen zwischen der Türkei und Europa brauchen wieder Festigkeit. Beide Seiten sollten aufhören, sich wie unzuverlässige Kantonisten zu benehmen. Dann kehrt auch das Vertrauen zurück.
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