Von Arvind Subramanian, leitender Wirtschaftsberater der indischen Regierung
Ist Indiens Wirtschaft bald wieder auf der Überholspur? Während sich das Exportwachstum des Landes im Zuge der synchron verlaufenden weltwirtschaftlichen Expansion beschleunigt, lassen die negativen Auswirkungen der Geldentwertung großer Banknoten vom November 2016 und der Einführung einer neuen Steuer auf Waren und Dienstleistungen vom vergangenen Juli nach.
Sofern sich die Belastung der Gesamtwirtschaft durch hohe Erdölpreise in Grenzen hält und deutliche Korrekturen hoher Vermögenspreise bewältigt werden, ist Indien im Begriff, erneut zur am schnellsten wachsenden großen Volkswirtschaft der Welt zu werden. Doch um die private Investitionstätigkeit zu beleben und für nachhaltiges mittelfristiges Wachstum zu sorgen, ist es entscheidend, dass die Regierung ihre Bemühungen fortsetzt.
Im Besonderen müssen sich wirtschaftspolitische Entscheidungsträger mit dem seit langem bestehenden Problem überschuldeter Firmen und unterkapitalisierter öffentlicher Banken befassen – dem sogenannten «Twin Balance Sheet Problem».
So wurden viele in Schwierigkeiten geratene Unternehmen gemäß eines neuen Insolvenzgesetzes, das im Dezember 2016 verabschiedet wurde, gezwungen, ihre Bilanzen zu bereinigen, und weitere Unternehmen dürften in diesem Jahr nachziehen. Unterdessen hat die Regierung umfangreiche Kapitalhilfen (rund 1,2 Prozent des BIP) für indische Staatsbanken angekündigt, damit diese ihre faulen Kredite abschreiben können.
Kredite der Banken
Während diese Reformen greifen, sollten indische Unternehmen endlich wieder in der Lage sein, Geld auszugeben, und Banken werden den entscheidenden, aber gegenwärtig verschuldeten Bereichen Infrastruktur und Industrie erneut Kredite geben können.
Es hat lange gedauert, Indiens Wirtschaftsreformen umzusetzen. Aber wenn sie weiterhin erfolgreich sind, werden sie wertvolle Erkenntnisse für künftige Führungskräfte über die angemessene Rolle der Privatwirtschaft nicht nur in Indien, sondern auf der ganzen Welt bereithalten.
Die Privatwirtschaft und der Kapitalismus im Allgemeinen rufen in Indien zutiefst ambivalente Gefühle hervor. Das geschieht aus gutem Grund, denn die Privatwirtschaft in Indien ist mit dem Stigma behaftet, der Ära des «Licence Raj» vor den 1990er-Jahren entsprungen zu sein – einem komplizierten Geflecht aus staatlichen Erlaubnissen, Auflagen und Bürokratie, das mit Korruption in Verbindung gebracht wird. Bis zum heutigen Tag geht man davon aus, dass einige der indischen Unternehmerlegenden ihr Imperium nur aufbauen konnten, weil sie sich die Feinheiten der indischen Zoll- und Steuervorschriften angeeignet und anschließend schamlos zu ihren Gunsten manipuliert haben.
Der Boom der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT), der in den 1990er-Jahren eingesetzt hat, konnte den Privatsektor teilweise von der Stigmatisierung befreien. Der IKT-Sektor hatte sich aus seiner Distanz zur Regierung heraus entwickelt, nicht aus der Nähe zur Regierung.
Indische IKT-Firmen haben vorbildliche Corporate-Governance-Standards eingeführt, wurden an internationalen Börsen gehandelt und behaupteten sich erfolgreich auf dem Weltmarkt. Und sie verbesserten infolgedessen Indiens Standing am Kapitalmarkt.
Doch nach dieser Ära des guten Kapitalismus kehrte das Stigma zurück. Während des Infrastrukturbooms Mitte bis Ende der 2000er-Jahre war die Vergabe öffentlicher Mittel für Vorhaben zu Lande (Landnutzungs- und Umweltgenehmigungen), unter der Erde (Kohle) und sogar im Äther (Frequenzen) von Rent-Seeking und Korruption durchdrungen. Außerdem wurden Kredite für Infrastrukturinvestitionen in dieser Phase leichtfertig und fahrlässig von den öffentlichen Banken vergeben, die oftmals politisch gut vernetzte Kreditnehmer mit hohem Risiko mit finanziellen Mittel ausstatteten.
«Beschränkte Haftung»
Infolgedessen gelangte die indische Öffentlichkeit zu dem Schluss, dass Hauptanteilseigner («Projektträger») kaum ein Risiko eingingen und dass «beschränkte Haftung» in Wirklichkeit gar keine Haftung bedeutete. Und nun, da das Geschäftsmodell der IKT-Branche – kostengünstige Programmierleistungen für ausländische Kunden – vom rasanten technologischen Wandel bedroht ist, ist sogar Indiens «sauberste» kapitalistische Branche mit ordnungspolitischen Herausforderungen konfrontiert.
Allgemeiner gesprochen könnte man sagen, dass Indien einen Wandel von einer «sozialistischen Vetternwirtschaft» zum «stigmatisierten Kapitalismus» vollzogen hat. Und der Zeitgeist im stigmatisierten Kapitalismus hat die Bemühungen der politischen Entscheidungsträger behindert, die Folgen des «Twin Balance Sheet Problem» anzugehen, das wiederum das Wachstum beeinträchtigt.
Schon allein der Gedanke, dass Projektträgern Schulden auf Kosten der Steuerzahler erlassen werden könnten, hat seit Jahren für politische Lähmung gesorgt. Warum sollte einfachen Leuten die Last der Bonzen aufgebürdet werden, die sich auf dem Weg zur Bank ins Fäustchen lachen?
Vor diesem Hintergrund betrachtet ist es einfacher nachzuvollziehen, warum es in Indien so lange gedauert hat, Wirtschaftsreformen zu verabschieden, und warum sich ihre Umsetzung so schwierig gestaltet. Die Regierung muss gleichzeitig das «Twin Balance Sheet Problem» lösen und dafür sorgen, dass Projektträger keinen neuen Zugriff auf ihre Aktiva erhalten, was die fiskalischen Kosten in die Höhe treibt.
Indiens erste Erfahrungen mit dem Kapitalismus halten Lehren bereit, die andere Länder im Zeitalter aufstrebender Technologieriesen beherzigen sollten. Das indische Modell, demzufolge öffentliche Banken Kredite an private Unternehmen vergeben, hat sich als derart schädlich und schwierig zu ersetzen erwiesen, dass Banken in Staatsbesitz an sich viel an ihrer traditionell sozialistischen Attraktivität verloren haben. Die Ironie besteht darin, dass Indien heute, nach den langen und schmerzhaften Erfahrungen mit Gefälligkeits- und Klientelkapitalismus, am besten mit mehr Kapitalismus gedient sein könnte, angefangen im Finanzsektor.
Dieser Kommentar beruht auf dem gerade veröffentlichten Wirtschaftsbericht der indischen Regierung.
Copyright: Project Syndicate, 2018.
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